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Rattarium  

Klon-Dyke

Informationen zur Entstehung dieser Short Story: Dennis Frey fragte am 8. Februar 2022 auf Twitter, unter dem #ÜberraschtMich, eine Geschichte zu erfinden und gab entsprechende Eckdaten dafür an (siehe Thread von Dennis).
Und hier ist meine Version der Geschichte dazu.

Personen und Pronomen:

Yenna, sie
Sal, sie
Karlen, er (trans)
Ronar, keine
Nadeshda, sey
Ubbo, sier
Benni, sie (nichtbinär)

Blitzer, es, (Ogone, Gender unbekannt)

Content Notes: Insekten, Tiere, Aliens, Fäkalien, Bedrohung, Überwachung, Desorientierung, Gefangenschaft.
Positive: no sex, queere Charaktere, kaum bis keine Gewalt.

Kapitel 1 Klon-Dyke City-Limits Drittes Jahr

Sie hatten Papp-Schilder mit Aluminium beklebt und dunklen Stoff darüber gespannt. Schnüre an den Rändern kreuzten sich vor der Brust über ihren Schultern, um die halbrunden Pappen auf ihren Rücken zu fixieren. Es sollte sie vor den Kameras schützen, die hier irgendwo an der Ringmauer, wie überall in der Stadt, ihre Infrarot-Finger in die Nacht hinaus sandten.

Wie gigantische Käfer krochen sie langsam im Schlagschatten des Mondlichts auf allen Vieren hintereinander auf das Schachthaus zu. Es gab keine Tore in der Ringmauer, keine Möglichkeit an der glatten Oberfläche emporzuklettern. Das Schachthaus war der einzige Weg hinaus. Die Türen waren allerdings alarmgesichert. Das hatte Karlen herausgefunden. Karlen war es auch, der die einzige Schwachstelle des Stadtsystems herausgefunden hatte: den unterirdischen Entsorgungstunnel.

Yenna schickte ihn und die starke Sal mit einer Handbewegung vor, den schweren Schachtdeckel anzuheben. Sie hatten sich Metallhaken dafür aus Stuhlbeinen geformt. Die Haken passten perfekt. Ein steinernes Schaben und angestrengtes Stöhnen später gähnte die Öffnung des Schachts vor ihnen ins Leere. Die beiden kletterten zuerst hinunter, rostige Metall-Ösen bildeten eine leiterartige Struktur, die in unbestimmte Tiefen führte. Ronar, Nadeshda und Ubbo folgten. Ihre Käferpanzer ließen sie am Rand des Einstiegs zurück. Yenna war die letzte nach Benni. Aufmerksam lauschte sie ein letztes Mal in die Dunkelheit. Dann legte sie ihren Schild über sich so auf die Öffnung, dass es nicht auffiel, dass der Deckel fehlte. Sie hoffte, dass es reichte, um ihnen den nötigen Vorsprung zu verschaffen.

Ciao, Stadt, dachte Yenna, du warst gut zu uns – aber nicht gut genug. Mit dem Zudecken war auch der letzte Rest Licht aus dem Schacht ausgesperrt. Tastend bewegte sich Yenna nach unten, den anderen folgend. Und dem stärker werdenden Geruch der Fäkalien. Würgend zog Yenna den Schal hoch über Mund und Nase. Es war nur die Illusion eines Luftfilters. Und es war nicht das Schlimmste, was noch vor ihnen lag. Andererseits – was hatten sie erwartet, wenn sie in einen Klärschacht einstiegen, dem einzigen Weg für sie hinaus aus diesem Gefängnis.
In der Dunkelheit huschten unbemerkt große, pelzige Tiere an ihnen vorbei.

~

Die Stadt war gut zu ihnen gewesen. Alle, die dort lebten, waren gut versorgt worden, Kleidung für alle, Essen für alle. Es fehlte ihnen, den 50 Verlorenen der Zeit, an nichts, die Stadt gab ihnen alles, außer Freiheit. Sie hatten die Stadt nicht verlassen können.

~

Klondyke Jahr 1 Vergangenheit

Yenna erwachte, als sie auf dem Boden vor einer Pritsche aufprallte, von der sie anscheinend gerade gefallen war. Ein kahler Raum, in dem nichts war, außer jener Pritsche. Sie trug einen grauen Overall und hatte keine Erinnerung daran, wie sie hier hergekommen war, wo dieses »hier« war oder auch nur, wer sie war. Die Öffnung in der Wand – der Begriff »Tür« ergab einen Sinn in ihren Gedanken – führte sie hinaus auf eine Straße.

»Da ist jemand neu angekommen«, hörte sie eine helle Stimme rufen, als sie blinzelnd in die Helligkeit der Mittagssonne trat. Von allen Seiten kamen Menschen herbei. Allmählich klärte sich Yennas Sicht. Die Kleidung, die Frisuren, die Hautfarben der Einzelnen unterschieden sich stark.

Die helle Stimme erklang nun wieder, diesmal direkt vor Yenna: »Guten Tag. Ich heiße Benni. Ich bin ein Mädchen aus den Neunzigern. Du siehst aus, als wärest du in etwa auch aus jenen Jahren.« Benni drehte sich um und zeige auf verschiedene Leute: »Die dort sind aus der Epoche ungefähr 100 Jahre früher, wir schlüsseln das noch auf, von wann genau. Das da sind die von am weitesten zurück«, sie zeigte auf eine andere Gruppe von Menschen, »und die hier sind auch aus meiner Zeit.«

~

Jahr drei Gegenwart

So hatte Yenna die andern kennengelernt. Sal, Karlen, Ubbo, Ronar und Nadeshda. Es war verwirrend. Innerhalb von Wochen waren sie alle innerhalb der Mauern aufgetaucht. Ohne zu wissen, wie und woher. Gelegentlich schoben sich vage Erinnerungen in den Vordergrund. Als wären es fremde Gedanken. Sie alle litten darunter. Und nun krochen sie zu Siebt durch diesen stinkenden Abwassertunnel. Wie sie hofften, in eine Freiheit, die nicht vom System beherrscht wurde.

~

Jahr zwei Vergangenheit

»Die beobachten uns«, sagte Ubbo und deutete mit dem Kinn hoch zu dem Flugkörper, der gelegentlich über der Stadt zu sehen war.

Benni nickte. »Das sind die vom Großen Geschwister.«

»Könnten auch welche vom Zi-Ei-Äh sein«, vermutete Ronar.

Yenna spie eine Fliege aus, die nicht rechtzeitig vom Nahrungsriegel aufgeflogen war, den sie sich gerade in den Mund schieben wollte. Mit der Hand wedelnd versuchte sie, den Schwarm von ihrem Gesicht fernzuhalten. Es gelang nur mäßig, die lästigen Biester waren einfach überall. »Mir ist egal, wie die Scheißer heißen, die uns hier einsperren. Ich will raus. Ich will Antworten.«

Nadeshda nickte bedächtig. »Irgendetwas ist hinter der Mauer, von dem sie uns fernhalten wollen. Ich will auch raus.«

Yenna blickte in die Runde: »Dann lasst uns mal nach Wegen suchen«, sagte sie.

~

Jahr drei Gegenwart

Sie kamen in einer Anlage heraus, die das Abwasser aufbereitete. Sieben stinkende, schlammige Gestalten rissen sich am Becken mit dem klarsten Wasser die Schals vom Gesicht und atmeten hastig ein. Ob das Wasser wirklich klar war, konnten sie im spärlichen Mondlicht nicht erkennen, aber es roch zumindest besser als alles, was ihnen in den letzten Stunden unter die Nase gekommen war. Sie wuschen sich hastig und schlugen sich in der Dämmerung in die Büsche, um möglichst viel Strecke zur Anlage und der Stadt zu bekommen, deren Mauern weit hinter ihnen bedrohlich in der Dunkelheit aufragten.

Erst Stunden später öffnete sich das waldige Gestrüpp zu einer freien Ebene, auf der entfernt einige einzelne Bäume und Gebäude standen. Einen Tag lang beobachteten sie die Ansiedlung aus der Ferne, dann gingen ihnen die mitgebrachten Nahrungsmittel aus.

»Sal und Karlen, ihr kommt mit mir, die anderen folgen leise im Abstand«, ordnete Yenna an. Sie pirschten sich an.
Aber sie kamen nicht weit. Mitten auf freier Fläche, die keine Deckung bot außer dem Schatten des Mondlichts, fuhr eine Art Bodengleiter auf sie zu.

»Was machen wir?«, fragte Sal, sich nervös nach dem Rest der Gruppe umsehend und den Abstand zum Waldrand abschätzend.

Yenna hatte ähnliche Gedanken: »Vergiss es, das ist zu weit. Hören wir uns an, was sie zu sagen haben.«

Der Gleiter hielt neben ihnen an. Eine Luke öffnete sich und ein Wesen schob sich aus der Öffnung. Tentakel, leuchtende Warzen, drei Augen.

»Die sind nicht von hier«, kommentierte Sal trocken. Hinter ihnen rief Ubbo etwas, das sie nicht verstanden. Das Wesen begann mit so etwas wie Leuchtwarzen in abwechselnden Farben zu leuchten. Es richtete einen Tentakel mit einem Gerät auf sie.

»Vorsicht, das ist eine Waffe«, rief Sal und wollte sich auf das Alien stürzen. Yenna hielt sie am Arm zurück.

»Nein. Hör doch!«

Aus dem Gerät quäkte eine künstliche Stimme, die anscheinend die Lichtsignale in Sprache übersetzte: »Bipedale, ihr habt euch verlaufen?«

Die anderen waren inzwischen herangekommen, wie Yenna leicht verärgert bemerkte. Sie sollten doch Abstand halten. Aber eigentlich war es nun gut, dass sie den Befehl missachtet hatten, da sie jetzt in der Überzahl waren. Mit diesem einen Alienmonster würden sie fertig werden.
»Drauf!« befahl sie und gemeinsam stürzten sie sich auf das tentakelige Monster.

Sekunden später zappelten vier von ihnen in den Fangarmen des Wesens, die anderen drei der Gruppe wurden von dem zweiten Wesen umschlungen, das sie übersehen hatten, weil es auf der anderen Seite aus dem Gleiter gestiegen war. Geklettert, oder geglitten, dachte Yenna, die sich noch nicht vom Schock erholt hatte, dass es Aliens gab, diese nicht nur auf diesem Planeten waren, ihrem Planeten und dass sie von einem festgehalten wurde, mit äußerst flexiblen Tentakeln, die ihre Arme fest an ihren Körper pressten.
Die Mission war gescheitert.

~

Jahr drei – eine Woche später

Man hatte sie in jener Nacht innerhalb der Aliensiedlung in eine Art Energiegehege gebracht.
»Zu eurem eigenen Schutz«, hatte eins der Vielarmigen geblinkt, übersetzt in hörbare Laute von diesem seltsamen Gerät.

Sie bekamen die Möglichkeit, sich zu säubern, neue Kleidung, für die sie sehr dankbar waren, weil ihnen immer noch der Fäkalgeruch anhaftete. Und es wurde ihnen Essen angeboten.

»Was die wohl mit uns vorhaben«, wollte Benni ängstlich wissen. Sie war bisher die Person in ihrer Runde gewesen, die am mutigsten und abenteuerlustigsten dahergekommen war.

Nadeshda zog sie an sich und sagte: »Wird schon, Kleines. Wirst sehen.«

Yenna hatte so ihre Zweifel. Ja, sie wurden gut behandelt. Aber das konnte alles bedeuten oder gar nichts. Sie schwieg.

»Da kommen einige dieser Monster«, sagte Ubbo.

Ronar funkelte siem böse an: »Nenn sie nicht so. Die sind nicht weniger wert als wir. Das sind lebendige Wesen. Reiss dich mal zusammen.«

Ubbo zuckte zurück, schien sich zu bedenken. Sier nickte schließlich. »Natürlich, du hast recht. Das war anmaßend.«

Fasziniert beobachtete Yenna die für sie verwirrende Koordination der Tentakeln, die unter den Köpfen der Wesen einen geordneten Tanz aufführten und sich nie dabei verhedderten. Sie selbst hatte manchmal mit ihren zwei bis vier Gliedmaßen Probleme. Sie stand auf und trat an die Energieschranke, die in diesem Moment abgeschaltet wurde. Die anderen blieben wachsam hinter ihr stehen.

Eines der Aliens begann, vor sich hin zu leuchten, der Translator übersetzte simultan. »Wir bringen euch zurück nach Klon-Dyke, wenn ihr soweit seid. Hier draußen gibt es nichts mehr für euch Bipedale. Mein Name ist Blitzer.«

»Was meint es?«, fragte Benni.

Nadeshda, dey immer noch beschützend seren Arm um sie gelegt hatte, antwortete ihr leise: »Vermutlich ist unsere Stadt gemeint. Komischer Name. Und Bipedale sind dann wohl wir mit unseren zwei Beinen. Wir müssen denen so sonderbar vorkommen wie sie uns.«

»Richtig«, blinkte das Wesen, das die leise Unterhaltung abgewartet hatte. Das Farbspiel schien irgendwie trauriger zu werden, fand Yenna. »Eure Stadt mit den 50 Klonen, das sind die einzigen Bipedalen, die es nun auf dieser Welt gibt. Wir versuchen auch andere Lebensformen dieses Planeten wiederherzustellen, aber davon gibt es zu wenig Material, um es zu kopieren.«

Vor Yenna verschwamm kurz die Umgebung, als sie die Erkenntnis mit voller Wucht traf. Sie alle waren nichts als künstlich hergestellte Lebensformen? Ein Experiment dieser Aliens. Eingesperrt in einer Kunstwelt. »Warum?«, fragte sie mit schriller Stimme.

»Möchtest du es sehen? Wollt ihr alle es sehen, um es zu verstehen? Kommt mit«, forderte Blitzer sie auf.

~

Lange flogen sie mit einem Großgleiter über verwüstete Flächen. Ruinen von einst großen Städten, nichts als überwucherte Trümmer. Verwüstete Landstriche, ein toter Planet.

»Wer war das?«, fragte Sal.

Und Benni fügte hinzu: »Seid ihr das gewesen?«

~

Die Tentakel zuckten nervös. Selbst die neutrale Stimme des Translatorgeräts klang irgendwie betroffen, als die Gruppe staunend hörte, dass die Bipedalen, Menschen, ihren Planeten selbst zerstört hatten. Bis hin zur Auslöschung. Die Tentakelwesen, die sich selbst Ogonen nannten und Forschende waren, hatten den Planeten lange aus der Ferne beobachtet. Sie hatten nicht rechtzeitig eingreifen können, interstellare Reisen dauerten halt ihre Zeit. Als sie endlich im Sternensystem der acht Planeten eingetroffen waren, fanden sie nur noch eine leere, verwüstete Welt vor. In Cryotanks, tief in Gebirgen im hohen Norden, unter dem spärlichen Rest Eis, der die Polkappen bedeckte, entdeckten sie später gefrorene Menschen. Genug Material, um daraus Klone zu basteln. Zeitgleich wurden Datenspeicher gefunden, entschlüsselt und einige der Daten genutzt, um Informationen in die leeren, aufnahmebereiten Gehirne der gezüchteten Menschen-Klone zu pflanzen.

Erneut fragte Yenna: »Warum?«

Das Ogone strich mit einem Tentakel sanft über Yennas kurze Haare. »Wir konnten diesen Planeten nicht rechtzeitig retten. Wir waren zu langsam. Das wollen wir reparieren. Es wird allerdings ein wenig dauern. Ihr seid erst der Anfang.«

»Wie lange?« Karlen war wortkarg, aber ein schneller Denker.

Ubbo reckte ebenfalls lauschend den Kopf zur Seite. Sier war unbemerkt neben Karlen getreten, nahm seine Hand. Karlen drückte zurück.

Blitzer signalisierte: »Ein paar hundert Umläufe eures Planeten um den Zentralstern in etwa. Manche Reparaturen dauern etwas länger. Ihr habt wirklich ziemlich alles kaputt gemacht. Das braucht Zeit. Habt ihr genug gesehen?« Blitzer wartete Yennas zustimmende Nicken ab.
»Dann wollt ihr nun zurück nach Klon-Dyke, denke ich. Festhalten.«

In einer halsbrecherischen Kurve wendete Blitzer den großen Gleiter und schoss über die trostlosen Weiten dahin, bis die Stadt in Sicht kam. Ihr Zuhause. Die einzige Stadt auf dieser Welt mit den letzten lebenden 50 Bewohnern, Menschen. Und den unzähligen Fliegen.

Von der neuen Rasse des Planeten, den Riesenratten, die in den verstrahlten Ruinen mutiert waren, ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

~ Ende ~

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