zum Text springen ·  zur Suchform springen. (Achtung! nicht auf allen Unterseiten vorhanden)

Rattarium  

Timewarp

Vor dem Fenster tanzten fette weiße Flocken.
Das Klassenzimmer war überhitzt und die von lustlosen Lernenden verbrauchte Luft hing wie ein Sedativum im Raum. In ein paar Minuten war es 14:30 Uhr, dann würde auch diese Stunde, dieser Schultag vorüber sein. Ein langes, elternloses Wochenende mit Brückentag lag vor Mario und seinen Freunden. Drei Tage Freiheit, drei Tage Party.
Die Stimme der Lehrkraft riss ihn aus seiner Versonnenheit. „… wenn auch Sie nichts dagegen haben, Mario?“
„Nein, gar nicht, Herr Bieler. Wogegen?“ Die Klasse kicherte.
Marios Augen flehten ein Was hat er gesagt? zu seinem Sitznachbarn und Freund Jannik hinüber. Der zischte stenografisch hinter vorgehaltener Hand:
„Probe. 15:00 Uhr. OK?“
‚Heute? Oh. Mist!’ dachte Mario.
„Ja, geht in Ordnung. In zwanzig Minuten in der Aula“, rettete Mario sich aus der Situation und bereute zum ersten Mal seinen Entschluss, sich bei der Theater-AG eingeschrieben zu haben. An die Theaterprobe hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Aber wenn es gut lief, konnte er trotzdem rechtzeitig bis heute Abend mit allen Vorbereitungen für die Fete fertig sein. Der Schulgong läutete das Ende der Stunde ein. Bieler nickte ihm zu, wünschte allen ein feines Wochenende und damit war die Klasse entlassen.

Die bisherige Lethargie innerhalb des Schulraumes verwandelte sich umgehend in lebendige junge Menschen, die alle gleichzeitig zu reden schienen. Stühle scharrten, Bücher wurden in Taschen gestopft, Schülerfüße schlurften aus dem Klassenraum. Das Stimmengewirr der Lernenden verlagerte sich allmählich nach draußen auf den Gang und verstärkte dort den anschwellenden Lärmpegel.

~

Vor der Aula trafen Mario und Jannik auf die anderen: Silvi, Moni, Sanne und noch fünf Mitlernende aus seiner und der Parallel-Klasse. Die Theater-AG war ein Wahlpflichtfach. Die Alternative wäre der Hauswirtschaftskurs oder eine Sport-AG gewesen. Eventuell hätte Mario auch gerne den Kochkurs oder Handball belegt, aber sein Freund Jannik war für Theater gewesen, und so hatte Mario sich ihm angeschlossen. Rollenspiele mochte Mario.
Da hatten sie noch nicht gewusst, dass sie die ‚Rocky Horror Picture Show’ aufführen würden.

Bieler, der auch die AG Theater leitete, kam um die Ecke und schloss seinen ‚Schauspielenden’ den Umkleide-Raum auf. Sie spielten schon von der ersten Probe an in Kostümen. Das war ein kluger psychologischer Schachzug von Bieler, denn wer konnte von Siebzehnjährigen erwarten, sich bei der Aufführung ohne Hemmungen in Strapsen und Korsett einem Publikum zu präsentieren. Aber so betrachteten die jungen Leute ihre Kostüme irgendwann im Laufe des Kurses als normale Arbeitskleidung und das verlegene Kichern und unbeholfene Hantieren mit den Kostümen war einer gewissen gespannten Gleichgültigkeit gewichen. Oder eher noch einem wohlig-verruchten Gefühl, das sie automatisch in die Atmosphäre des Stücks eintauchen ließ, sobald sie die Bühnenkleidung am Leib trugen.

Nach etlichen Proben gefiel es Mario sogar, Strümpfe und Stöckelschuhe zu tragen und fühlte sich darin bald so wohl, als würde er seine gewohnte Alltagskleidung, Lederjacke, T-Shirt und Jeans anhaben. Die Rolle machte ihm tatsächlich Spaß, den Text hatte er bald auswendig gelernt und verinnerlicht. Mario spielte den Frank N. Furter – und er machte sich recht gut darin. Mario hatte das ‚gewisse Etwas’ für diese Rolle, er konnte es selber nicht benennen, aber vielleicht lag es auch an seinem Aussehen. Er war ein ausgesprochen hübscher Junge: mittelgroß, mit schwarzen üppigen Locken und tiefblauen Augen mit langen Wimpern, um die ihn selbst eine Sophia Loren beneidet hätte.

Die blonde Silvi spielte Janet Weiss. Deren Verlobter, Brad Majors, wurde höchst überzeugend von Jannik gegeben. Marios Freund hatte die perfekte Dosis Zuvorkommenheit, die für diese Rolle vonnöten war. Sanne und Monika spielten Columbia und Magenta; Sean war mit seiner hageren Figur genau die richtige Wahl für den zwielichtigen Diener Riff-Raff. Bieler leitete die Aufführung als der Erzähler.

Die Rollen für Rocky, Eddie und Dr. Scott waren an drei Mitlernende aus der Parallel-Klasse vergeben worden. Mario bemühte sich, so wie seine Mitspielenden, bei den Proben alle nur mit ihren Rollen-Namen anzusprechen, um nicht durcheinander zu kommen.

Sie hatten in den letzten Wochen schon alle Szenen geprobt – bis auf das nächtliche Zusammentreffen mit Janet und Rocky und den Akt im Bett, bei dem der Transsylvanier Dr. Furter nacheinander sowohl Janet als auch Brad verführte. Aber heute, eine Woche vor der geplanten Aufführung, würde man auch diese, die schwierigste Szene, wie Biler meinte angehen.

Mario und die anderen hatten sich inzwischen umgezogen und routiniert gegenseitig geschminkt, eben waren sei noch ganz normale Jugendliche – jetzt hatten sie sich in geheimnisvolle Kreaturen der Nacht in Frank N. Furters Schloss verwandelt. Mario, Moni und Sanne bewegten sich auf der Bühne mit einer Grazie, als wären sie in Transsylvanien geboren und nicht in Köln-Porz. Die Mitspielenden, die bei dieser Szene nur am Rande zuschauten, verschlangen sie mit den Augen. Einige klatschten Beifall. Mario fühlte sich großartig.

Bieler ging mit ihnen noch einmal schnell die Skripte durch:
„Noch Fragen? Nein? Dann Los!“
Der für die Beleuchtung zuständige Mensch, oder vielmehr die theaterbegeisterte Techniklehrkraft, die hier in ihrer Freizeit aushalf, bekam ein Zeichen und auf der Bühne wurde es Nacht.

Janet lag auf dem Bett, die Scheinwerfer erfassten ihre Silhouette und gleich darauf auch die von Mario, der als Frank verkleidet zu ihr schlüpfte. Janet Weiss war willig und Silvi war es auch. Mario war ein paar Wochen zuvor kurz mit Silvi zusammen gewesen – er fragte sich ernsthaft, warum die Jungen aus seiner Klasse immer so viel Aufhebens um das Thema Mädchen machten. So wirklich aufregend war der Sex mit Silvi nicht gewesen, fand er. Aber bei dieser Bettgeschichte hier auf der Bühne war Mario doch dankbar für die gemachten Erfahrungen und auch die so entstandene Vertrautheit mit Silvi, es half beiden über mögliche Peinlichkeiten hinweg.

Ende der Szene. {„Coming“}, rief Frank N. Furter, die Beleuchtung wurde wieder hochgefahren und Mario bemerkte so etwas wie Bewunderung oder gar Neid bei seinen Mitspielenden, die vom Bühnenrand aus zugesehen hatten. Silvi war für sie der Typ Mädchen, mit dem jedweder von ihnen gerne im Bett gelegen hätte. So ähnlich hatte es ihm jedenfalls Sean zugeflüstert, aber Mario hatte nur mit den Schulten gezuckt. Es war doch nur eine Rolle, die sie hier spielten. Und sie hatten gut gespielt. Er war zufrieden mit sich.

Sean knuffte Mario beim Abgang mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Alter Schwerenöter!“, raunte er ihm zu.
Mario konnte es hier im Schatten nicht genau erkennen, aber er vermutete, dass Sean grinste und ihm zuzwinkerte. Er knuffte unverbindlich zurück und trank einen Schluck aus seiner Trinkflasche.

In der nächsten Szene würde Mario als Frank N. Furter das Ganze mit Jannik, der Brad spielte, wiederholen. Jannik beugte sich zu ihm und flüsterte an Marios Ohr, absichtlich gerade laut genug, um von den Nächststehenden gehört zu werden:
„Aber nicht mit Zunge, Darling!“
Dann stolzierte Jannik betont mit den Hüften wackelnd zum Liebeslager auf der Bühne. Sanne, Silvi, Sean und die anderen prusteten los. Bieler bat prompt um Ruhe. Mario lachte nicht mit, er fühlte sich plötzlich wie eine dieser hölzernen Matrjoschkas, diesen Steckpüppchen – nur irgendwie falsch zusammengesteckt und mit Herzklopfen bis zum Hals.

Sie sollten den Kuss ja nur andeuten, schauspielern. Doch Mario fragte sich unwillkürlich, wie es wohl sein würde, Jannik richtig zu küssen. Seinen besten Freund Jannik. Sein Kumpel, den er seit dem Kindergarten kannte. Mit dem er schon so manchen Unsinn angestellt hatte, für den ihnen ihre Eltern, wenn sie es je herausbekämen, das Taschengeld auf Jahrzehnte rückwirkend entzogen hätten. Mario atmete ein paar mal tief durch. Er musste jetzt wieder in der Rolle sein. Er war Frank und Brad schlief allein in seinem Zimmer. Mario ging auf Position.

Das Licht wurde gedämpft, Bieler nickte und Mario betrat, seine Verlegenheit überspielend, das Schlafzimmer von Brad. Jannik lag bereit und sah ihn aus fast geshlossenen Lidern an.
Silvi sprach im Hintergrund ihren Text:
{„Oh, Brad darling, it’s no good here. It’ll destroy us.“},
und Frank stürzte sich auf Brad, ihn der Rolle gemäß sinnlich verführend, bis Brad seinem Werben nachgab, wie zuvor schon Janet.
Frank kniete auf dem liegenden Brad und bedeckte dessen Gesicht mit Küssen. Soweit so gut. Nun auf den Mund.
„Nur auf die Oberlippe, nur andeuten“, hatte ihnen Bieler eingeschärft.
Frank küsste Brad. Mario küsste Jannik.
Auf seinen Mund. Auf Janniks Mund.
{„oh YOU!“} sagte Brad.
{Frank: „Oh yes yes, I know… but it isn’t all bad, is it? Not even half bad, I think you really quite enjoyed it.“}
Frank / Mario küsste leidenschaftlich Brads / Janniks Brust, Janniks Bauch … Ihre Hände fanden sich, Finger verschränkt, spielten sie weiter.
{Brad starts moaning: „Oh … so soft … “}, stöhnte Jannik und Mario empfand genau dasselbe.
{Brad: „Stop it… stop it… oh Janet… JANET!“}

‚Was geschieht hier?’, fragte sich Mario und Jannik atmete heftig, drückte seine Hand.

Der Diener Riff-Raff unterbrach sie mit der Meldung:
{“Master, Rocky has broken his chains and vanished. Your new playmate is loose and somewhere on the castle grounds … Magenta has just released the dogs …“}, sagte Sean.
Dann beendete Franks zweites {„Coming“} die Szene.

Das Spotlicht erlosch, Mario kletterte hastig vom Bett, er zitterte. Das Bühnenlicht wurde eingeschaltet. Beifall.
„Wunderbar. Die Szene kann so bleiben“, sagte Bieler
Die anderen hatten nichts gemerkt. Für sie alle hatte dieser zweite Durchgang genauso ausgesehen, wie der mit Silvi. Auch Bieler war begeistert gewesen.
Danach kam noch die lange Szene mit Janet und Rocky dran, die auch zur allgemeinen Zufriedenheit gemeistert wurde. Ausgelassen tanzten sie alle noch kurz die Schluss-Szene, den Time-Warp, bis Bieler sie endlich für heute entließ:
„Schluss für heute, ihr wollt sicher ins Wochenende.“

Alle bewegten sich zum Umkleideraum, Mario und Jannik folgten langsamer. Sie zogen sich schweigend nebeneinander um. Jannik teilte Marios Verlegenheit, sagte aber kein Wort, sah ihn nur hin und wieder mit einem undeutbaren Blick von der Seite an. Die anderen verabschiedeten sich schulterklopfend von ihnen.
„Bis nachher zur Party dann,“ sagten sie.
‚Ach ja, die Party’, fiel es Mario wieder ein. Jannik würde ihm bei den Vorbereitungen zur Fete helfen und bei ihm übernachten, wie schon so oft. Das war nach heute kein Problem, oder doch? Immer noch verlegen schweigend traten sie gemeinsam den Heimweg an, kauften auf dem Nachhauseweg noch einige Tüten Chips und ein paar Getränke – alles andere würde jeder Gast selber mitbringen – und räumten dann bei Mario zuhause diverse Möbel um.

~

Eine halbe Stunde vor Party-Beginn war alles fertig. Aus der Musikanlage klang der vorbereitete Partysound. Jannik holte zwei kühlschrankkalte Getränke aus der Küche und sie setzten sich damit nebeneinander auf den untersten Treppenabsatz. Jetzt, da nichts weiter zu tun war, als zu warten, konnten sie einander nicht mehr ausweichen. Etwas hatte sich zwischen ihnen grundlegend geändert.
Sie mussten reden.

„Was genau ist da vorhin eigentlich passiert?“ fragte Jannik leise und sah Mario forschend aus braunen, goldgesprenkelten Augen von der Seite an, als wäre er ein völlig Fremder, der ihn soeben auf der Straße angesprochen hatte.
Mario hielt den Blick auf seine Fußspitzen gesenkt. Dann sah er auf, in Janniks Augen und antwortete, etwas trotzig:
“Weiß ich doch auch nicht.“
Und dann etwas leiser, fast verwundert, sagte Mario: „Aber es fühlt sich richtig an. Auf einmal ist alles so klar.“
„Ja,“ sagte Jannik ruhig, „plötzlich passt alles.“

Ende (?)

Theaterrollen und Personen

Frank N. Furter ~ Mario
Brad ~ Jannik
Janet ~ Silvi
Columbia ~ Moni
Magenta ~ Sanne
Riff-Raff ~ Sean
Rocky, Eddie und Dr. Scott

Kommentarfunktion ist deaktiviert

top ▲

impressum · M@il · XHTML · © Oktober_2001-2007 Rat Ed Home. Rattarium is powered by » WordPress | » WPD