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Rattarium  

Sommer und der siebte Zwerg

– Der Zwerg mit der roten Mütze stirbt immer zuerst –

Chef Bir (er, rote Mütze)
Doti (sie, orange)
Sib (er, gelb + rot + schwarz)
Tra (-, grün, Doc)
Dört (-, hellblau)
Bel (-, dblau)
Yuno lila, (dey, demm)
Pin (sie, weiß)
Deman Charlie Sommer (hen)

Genre: Mix aus SF, Fantasy, Sage, Märchen, Anime-Anspielungen und Action.
Lesezeit für die 8 Kapitel: etwa 70 Minuten.

PDF-Datei Download des Kurz-Kurz-Romans als PDF-Datei (255 kb, 42 Seiten):
AlienZwerge-PDF

Handlung: Zwerge aus dem All stürzen auf Terra ab, treffen auf Nibelungen-Sigfried (hier Sigurd) und entledigen sich Schneewittchen. Später muss die Zerstörung der Erde durch eine Armee Naniten-verseuchter Gartenzwerge verhindert werden.

CN, Inhalte: Tod durch Unfall; Verlust der Heimat (Planet); Bedrohung (verbal und mit Waffen); Verfolgung; Psychischer Zusammenbruch; Diebstahl; Betäubung; Misstrauen; Drachenkampf.

Positive Tags: Queere Zwerge (Neopronomen, Polyamory etc); Freundschaft zwischen Spezies; Kein Sex, keine Romanze; Zusammenhalt; Vertrauen; trans/enby Charaktere.

Prolog

Im Urlaub schliefen die Eltern immer besonders lange. Oder so kam es dem Kind zumindest vor. Gerade war die Sonne aufgegangen und Charlie hielt es nicht mehr im Bett. Die Latzhose war fix über den Schlafanzug gezogen, die nackten Füße in die Gummistiefel gesteckt, die Stoffpuppe unter den Arm geklemmt und am vorbereiteten Frühstückstisch eine Semmel eingesteckt. So ausgerüstet, huschte Charlie hinaus und machte sich auf den Weg durch den Frühlingsgarten zum kleinen Teich hinter der Ferienwohnung, in dem bunte Zierfische schwammen.
Rechts und links des gewundenen Pfades, am Hang und überall in den Beeten standen lustige Figuren in unterschiedlichen Posen. Gartenzwerge. Die Eltern hatten Charlie erklärt, dass diese Thüringer Gegend berühmt für die Tonzwerge sei. Weil Charlie keinen davon anfassen durfte, waren sie als Spielzeug sofort uninteressant geworden. Da waren die Fischlein im Teich doch viel spannender, denn die konnten wenigstens gefüttert werden. Charlie wollte die Semmel mit ihnen teilen. Das würde bestimmt lustig werden.
Aber als Charlie um das letzte Gebüsch bog, war da am Teich ein großer Reiher, der mit den Flügeln schlug und immer wieder mit dem spitzen Schnabel nach etwas am Ufer hackte. „Lass die Fisse in Ruhe!“, rief Charlie lispelnd und warf eine Handvoll Kiesel nach dem Vogel, die zwar nicht trafen, das Tier jedoch so erschreckten, dass es das losließ, was es gerade gepackt hatte und wild flatternd die Flucht ergriff. Etwas Großes plumpste ins klare Wasser am Teichrand. Charlie schaute besorgt in den Teich, ob es dem befreiten Fisch gutging. Auf der Oberfläche dümpelte eine winzige rote Mütze – aber unter Wasser trieb ein kleines Wesen auf dem Grund, das definitiv kein Fisch war. Es lag nah genug am Ufer, sodass Charlie mit den Stiefeln hineinwaten konnte, um es herauszufischen. Es sah aus wie eine dieser Gartenzwergfiguren, klein, mollig und bärtig, fühlte sich jedoch an, wie Charlies Stoffpuppe, wenn sie nass geworden war. Behutsam legte das Kind es am Ufer ab und sah zu, wie dieses Wesen sich regte, Wasser aushustete, sich eilig aufrappelte und zwischen Büschen und Steinen des Gartenhangs verschwand.
„Es hat uns gesehen, Sib. Wir müssen es töten!“, hörte Charlie ein barsches Stimmchen aus den Schatten.
Eine andere Stimme antwortete: „Ganz sicher nicht! Es ist nur ein kleines Kind – und es hat mich gerettet. Lasst uns verschwinden. Abmarsch, sofort!“
Die Stimmen wurden leiser und verklangen.
„Tsüss, Zwergi.“ Charlie holte die Semmel aus der Latzhose, riss ein kleines Stück ab und schob es in den Spalt an der Stelle, wo der Zwerg verschwunden war. Dann endlich wurden die Fische mit ein paar Krümeln gefüttert und den Rest aß das Kind selber. Das Mützchen war inzwischen ans Ufer gedriftet und Charlie fischte es heraus, wrang es und setzte es lächelnd der Puppe auf.

Kapitel 1 – Die Invasion der Zwerge

Viele Jahrhunderte zuvor.
Warnung. Absturz steht bevor. Warnung. Aufschlag in … Krchhhx. Die Faust des Kommandanten auf dem Lautstärkeregler setzte der nervigen Wiederholung der Computerstimme ein Ende. Das Schiff war alt. Zu alt. Die Sensoren hatten den Meteoriten zu spät bemerkt. Gerade noch rechtzeitig hatten sie nach dem Zusammenstoß entdeckt, dass der dritte Planet dieses Sonnensystems, das sie gerade passierten, zum Überleben geeignet wäre. Chef Bir saß selbst an der Steuerkonsole und manövrierte die angeschlagene Lindwind in eine Umlaufbahn. Nun flackerte auch noch die Beleuchtung.
„Quarzit!“, fluchte Doti. Ein Tritt ihrer derben Stiefel an den Verteilerkasten machte dem Flackerspuk ein Ende. Das Notlicht flammte düsterblau auf.
„Danke Doti, gut gemacht.“ Bir sah angestrengt auf die Anzeigen des Pults. „Sib. Schau dir die Formation da unten an. Was meinst du?“
Das Blau der Notbeleuchtung verwob zu einer ungesunden Farbe mit Sibs orangefarbener Mütze. Sib schaltete die Details der Anzeige herüber auf das eigene Kontrollpult. „Sieht gut aus. Breites Tal, genug Platz für Verstecke in den umliegenden Bergen und Wäldern. Bring uns möglichst nah ran. Es werden Hohlräume in den Felsen angezeigt. Das da könnte jedoch eine Siedlung sein. Abstand davon. Ich markiere es dir. Yuno, eine Umlaufbahn schaffen wir noch, oder?“
Yuno schob die verschwitzte lila Mütze aus der Stirn. „Eine, bestenfalls. Wird eng.“
Bir knurrte. „Darauf verwette ich meine rote Mütze. Das schaffen wir.“
Das Schiff antwortete mit Bocken und berstenden Geräuschen.
„Alle in die Stasekapseln. Sofort. Ich bringe uns runter.“
„Ihr habt den Chef gehört“, sagte Tra, der Sanitätszwerg, kenntlich an der grünen Mütze, und stolperte im Schlingern des Schiffs hastig zur Tür hinaus.
Das drängende „Los, los!“ von Doti ging beinahe im Pfeifen des gequälten Schiffs unter. Irgendwo sprühten Funken aus einer Konsole und Rauch zog unter der Decke dahin.
Sieben von den acht Kapseln schlossen sich. Kurz wünschte sich Bir in die letzte noch offene, aber entschied sich kopfschüttelnd dagegen. Er war der Chef, er musste das Schiff so lange wie möglich auf Kurs halten und im letzten Moment entscheiden, wo der Aufschlag sein würde. Dabei konnte der Autopilot nicht helfen. „Hey Ho, Lindwind. Lass mich nicht im Stich.“
Es waren Chef Birs letzte Worte.

Elend lange fegte das Schiff bei seiner Havarie über Baumwipfel und Grate, verlor an Energie und Geschwindigkeit und rammte, in eine Staubwolke gehüllt, mit einem letzten Schub tief in einen Gebirgshang. Geröll und Baumstämme rutschten nach, begruben die Lindwind im Berg. Kurz noch war das Schiff von allen Seiten eingeschlossen, dann brach der Boden unter ihm weg und ließ den immer noch glühenden Schiffskörper in einem darunterliegenden Höhlensystem zur Ruhe kommen. Dampf wallte auf. Die Hülle knackte im Temperaturschock. Dann war es still.
Nach und nach wurden die Türen der Stasekapseln geöffnet. Ein Besatzungsmitlied nach dem anderen kroch ächzend daraus hervor und wankte zurück in den Brückenraum. Sie lebten noch. Dank Chef Bir. Doch der würde nie wieder fliegen. Eine gelöste Deckenstrebe hatte den Pilotensessel zerschmettert – und Bir.
Die rote Mütze ging an Doti.

Schweigend stellten sie Birs ausgebaute Stasekammer in das vorbereitete Loch auf dem Berggipfel. Sie schichteten Steine darum und darüber auf, bis nichts mehr zu sehen war, außer ein paar Felsen, die einen Steinkegel formten. Sie blieben nur kurz hier oben, schauten bange über das Tal mit dem Fluss darunter und wieder zu Doti. Was würde sie in dieser Welt erwarten? Gab es eine Rückkehr?
Sib griff nach Dotis Fingern, suchte Trost in der Berührung. Der Verlust ihres Teamleiters schmerzte. Denn mit Bir war nicht nur ihr Chef gestorben, sie drei waren verpartnert gewesen. Doch Doti entzog Sib ihre Hand. Mit versteinertem Gesichtsausdruck schickte sie alle zurück in die Berghöhle. Es gab zu viel zu tun.
Doti verteilte die Aufgaben. Routine half, Trauer nicht. Der Planet musste erforscht werden. Lebensbedingungen erfasst und das Schiff, ihr geschundenes wunderbares Schiff, musste auf Schäden untersucht und bestmöglich repariert werden. Am Ende hatten sie eine lange Liste von Aufgaben abgearbeitet und eine ebenso lange Liste an Dingen erstellt, die für die Reparaturen und das Überleben in dieser neuen Welt nötig waren.
Bel und Dört, die beiden ‚blauen‘ der Crew bastelten Drohnen nach dem Vorbild der vorherrschenden Fauna. Gesteuert wurden die Teile mittels Fernbedienungen, die in die breiten Armreifen, die jedes Besatzungsmitglied trug, eingearbeitet worden waren. Die Hummel-Drohnen sammelten außerhalb des Berges unauffällig Daten über die Wesen, die hier lebten. „Riesig, rückständig und rücksichtslos“, kommentierte Bel die Daten. Dört nickte.
„Wie groß?“ Pin beugte sich tiefer über den Monitor und strich nachdenklich über den Bart. „Quarzit! Wenn ich unter so einen Fuß gerate, bin ich … da passe ich ja ganz drunter. Denen gehen wir lieber mal aus dem Weg.“
Sib nickte zustimmend. „Wir brauchen eine Tarnvorrichtung, wenn wir uns draußen umsehen. Dört, Bel, helft ihr mir?“

Einige Zeit später, es waren Jahre ins Land gegangen, hatten sich die winzigen Außerirdischen eingerichtet. Die Lindwind war gut im Berg verborgen, aber sie würde nie wieder fliegen. Auf diesem Planeten gab es Metalle und Mineralien zuhauf, doch die entscheidenden Stoffe für die Reparatur des Antriebs hatten sie nicht gefunden.
Sie hatten die Wesen, die viel zu nahe an ihrem Versteck siedelten, gründlich studiert. Menschen nannten die sich, Burgunder. Deren Sprache war schnell gelernt, dank der programmierbaren Naniten des Schiffs. Die Mikro-Roboter waren Bestandteil der unbeschädigt gebliebenen Lindwind-Vorräte und wurden von Yuno weiterentwickelt.
Zu ihrem und des Schiffes Schutz hatten sie zudem den Wächter gebaut. Ein mechanisches Wesen, das mithilfe der zwergischen Armreifen bewegt werden konnte.
„Wir haben es mit Sensoren ausgestattet, Naniten steuern die Glieder und verstärken die gepanzerte Hülle. Und im Kopf haben wir unseren einzigen Laserstrahler verbaut. Taugt als Waffe nicht wirklich, sollte aber die Burgunder oder wilde Tiere zur Genüge abschrecken – wenn sie sich nicht schon von der schieren Größe beeindrucken lassen.“ Yuno täschelte sichtlich stolz die schuppige Hülle des Roboters, den sie in Abwandlung zum Schiffsnamen Lindwurm getauft hatten. „Leider sind unsere Metallvorräte durch den Bau dieser ganzen Spielereien hier“, dey ließ die Hand im Halbbogen andeuten, was gemeint war, „erschreckend geschrumpft. Wir sollten aufstocken.“
Doti nickte. „Schauen wir, was der Berg hergibt. Lasst uns graben.“

Kapitel 2 – Sigurd

Tra, der Sanitätszwerg, hatte die Aufgabe bekommen, die Wesen dieses Planeten zu analysieren. Außerdem verwaltete er die Logbücher der Lindwind. Gerade las er noch einmal durch, was er nach den turbulenten Ereignissen der letzten Monate eingetragen hatte, nun, da Sigurd besiegt war und sie den Ring wiederhatten:
Für Sigurd war die Welt einfach. Wenn ihm etwas im Weg stand, benutzte er seine Muskeln. Oder sein Schwert. Der Hüne hatte sowohl die Muskeln als auch das Schwert in der Schmiede seiner Tante erhalten. Bei Odin, diese Frau konnte kämpfen. Und als sie ihm jeden Kniff und jeden Hieb beigebracht hatte, den sie wusste, war es Sigurd zu eng im Dorf geworden. Ihn zog es hinaus in die Welt, selbsternannter Held, der er war. Und ausgerechnet auf Sigurds Weg zu Ruhm und Ehre stolperte er über Pin, die allein vor dem Versteck Beeren von den Büschen schnitt, während Doti im Schiff werkelte und die anderen im Berg nach Metallen gruben. Ihre weiße Mütze war leider zu deutlich im Grün des Waldbodens zu sehen, das wurde dem jüngsten Besatzungsmitglied zum Verhängnis.
„Heh da, Zwerg.“ Sigurd drohte Pin mit gezogenem Schwert. „Ist das Gold an deinem Arm? Zeig her.“
Pin dachte nicht daran, das unersetzbare Armband-Kom abzulegen, aktivierte ihren Tarnumhang und rannte zurück in die Bergspalte. Sigurd sah ihre Fußabdrücke im sandigen Waldboden und setzte ihr nach. Pin schaffte es noch, Doti und den Wächter zu rufen und ihrem Verfolger entgegenzuschicken, bevor Sigurd sie am Umhangs zu fassen bekam und energisch den Tarnzauber und den Ring forderte. Dann war Doti heran. Wütend, aber ebenso hilflos wie die zappelnde Pin in Sigurds Griff. Sigurd zwang Doti unter wüsten Drohungen, Pin zu verletzen, ihm das Artefakt auszuhändigen. „Passt besser auf meinen Finger als an deinen Arm, Alberich.“ Pin nutzte den kurzen Moment der Ablenkung und stach mit ihrem Küchenmesser tief in Sigurds Finger.
„Wer heißt hier Alberich?“ hörte Sigurd den Zwerg in seiner Hand schreien, spürte einen scharfen Schmerz im Finger, und öffnete mehr aus Überraschung die Umklammerung. Pin fiel, landete weich und zog Doti mit sich in Deckung hinter Geröll, denn der Wächter war endlich aufgetaucht. Doch Sigurd wäre nicht Sigurd, wenn er sich von einem vermeintlichen Drachen aufhalten lassen würde.
Leider war der Wächter wirklich nur Abschreckung und trotz seiner Größe und Kampfkraft nicht wirklich dem Wüten eines ausgebildeten Kriegers wie Sigurd gewachsen, dachte Tra, der noch einmal die spärlichen Berichte der der anderen durchblätterte. Zum Glück hat Sigurd das Schiff nicht entdeckt, denn Doti und Pin war es gelungen, den Weg zur Haupthöhle mit einem Felssturz zu versperren und sich selbst dahinter zu retten. Was genau sich während des Kampfes ereignete und wie es zu Sigurds Ende kam, können wir daher nur schlussfolgern, aber so könnte es wohl abgelaufen sein. Tra korrigierte einen Schreibfehler und las weiter in seinen Aufzeichnungen:
Stunden später hatte der Hüne den Wächter besiegt und dessen Bauch aufgeschlitzt. Literweise spritze kühle, mit Naniten getränkte Flüssigkeit aus der Hülle und floss in eine Bodensenke. Erschöpft und erhitzt vom Kampf entkleidete sich Sigurd und nahm ein Bad. Die Naniten verschmolzen mit Sigurds Haut. Drachenblut, so würde er vor den Leuten nachher prahlen, das ihn am ganzen Körper unverwundbar machen würde. Unverwundbar – bis auf die eine Stelle am Rücken, auf die ihm Pin unbemerkt einen Tracker kleben konnte. Wo der Tracker war, da war Sigurd. Und Sigurd hatte den einen, den wichtigsten Ring.

Etliche Betrügereien, Rangeleien, Vergewaltigungen und anderer Verbrechen später, die Sigurd Heldentaten nannte und die letztlich zu seinem unrühmlichen Ableben führten – ein missgünstiger Krieger setzte mit einem gut gezielten Speerstoß hinterrücks dem Leben des blonden Hünen ein jähes Ende – hatte die Gemeinschaft der Sieben dank des Trackers den toten Helden gefunden und ihm den Ring, das Kom-Armband, wieder abnehmen können.
Das Erlebnis brachte einen Umbruch in die Hierarchie der Besatzung. Doti, der durch Birs Tod so unverhofft die führende Rolle zugefallen war, gab verunsichert das Amt wieder ab. Die Aufmerksamkeit, die sie bei den Menschen erregt hatten, der Verlust des Armbands, das Sigurd seinen Ring nannte, hatte ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten erschüttert. Sib wurde einstimmig zum neuen ersten Zwerg unter sieben gewählt.

Tra schloss stirnrunzelnd das Logbuch. Vielleicht hatte er sich etwas zu sehr dazu hinreißen lassen und den Text zu prosaisch und blumig gestaltet. Aber eigentlich war es ihm schlicht egal. Die Chronik der Lindwind-Zwerge zu führen, war eine seiner Aufgaben, und in welcher Form er das letztlich machte, schien ihm nicht relevant.

Sib ordnete an, dass die Zwerge erst mal lange abtauchen sollten, bis die Menschen sie vergessen haben würden. „Die Stasekammern werden uns Jahrzehnte am Leben erhalten, wenn nicht gar Jahrhunderte.“ Dass es tatsächlich Jahrhunderte werden würden, ahnte er nicht.

Kapitel 3 – Schneewitte

Benommen wachte Sib auf, fühlte sich wie versteinert. Injektionen und Vibrationen führten allmählich dazu, dass der Zwerg sich wieder bewegen konnte. Nur das Denken fühlte sich immer noch sehr staubig an. Die Mechanik der Stasekammer drückte Sib so sanft wie unerbittlich auf den Gang. Sib reckte sich mit knirschenden Gelenken und gähnte mehrfach ausgiebig. Dann endlich nahm Sib die Geräusche wahr, die aus der Kommandozentrale nebenan kamen. Das Licht, das durch den Türspalt fiel, war zu grell. Sib kniff die Augen zusammen. „Lindwind, wo ist mein Augenschutz?“, fragte Sib das Schiff mit krächzender Stimme. „Granit und Hammer, wie lange habe ich nicht gesprochen?“ Eine fliegende Drohne – seit wann konnten die so etwas? – setzte Sib eine stark getönte Brille auf die knubblige Nase. Viel besser.
Die Stimme des Schiffcomputers quäkte: „Die Antwort könnte dich verunsichern.“
Das war mal ungewöhnlich. Sollte ein Computer auf eine konkrete Frage nicht präzise formulieren können? Bevor Sib weiter nachhaken konnte, kam Doti durch die Tür der Zentrale herein und verriegelte sie hinter sich.
„Ah, du bist schon wach, Sib. Das ging schnell.“ Doti zog Sib mit sich, Richtung Küche. „Du musst etwas essen, und trinken natürlich auch. Lindwind arbeitet daran, da bin ich mir sicher. Wie geht es mit den Augen? Hast du Schmerzen?“ Doti hörte gar nicht mehr auf zu reden.
Irgendetwas wollte Sib noch fragen. Was Doti in der Zentrale gemacht hatte, zum Beispiel. Oder warum war sie wach, und wie lange schon. Wo waren die anderen? Aber mit dem ständigen Geplapper im Ohr ging das nicht. Ergeben ließ sich Sib in die Pantry führen, wo Lindwinds Drohnen tatsächlich den Tisch mit Nahrung und Getränken bestückten. Im Laufe des Tages – oder war es Nacht – schlurften die anderen der Crew in die Pantry, aßen, tranken und hörten verschlafen Dotis Situationsbericht. Sib wurde das Gefühl nicht los, dass Doti etwas wichtiges verschwieg.
„So lange? Jahrhunderte? Marmor, Stein und Eisen. Wie konnte das passieren?“
„Hätte die Lindwind uns nicht früher aus der Stase holen sollen?“
In die gemurmelten Gespräche hinein ertönte die Schiffsstimme der Lindwind: „Um die strukturelle Integrität und die funktionalen Abläufe zu garantieren, brauche ich …“ Es folgte eine lange Aufzählung von Mineralien und Mengenangaben. Zuletzt gab Lindwinds Computer noch Hinweise, wo diese Metalle und Kristalle zu finden waren. Seit wann sieht sich das Schiff als Individuum, fragte sich Sib, und wieso scheint sie selbstständig ihren Bedarf zu analysieren?
Das Schiff hatte nicht nur Pläne erstellt, sondern auch Drohnen vorausgeschickt, die heimlich in einem Gebirge nordöstlich von hier einen Stützpunkt errichtet hatten.
Tra hatte die gesammelten Daten der Drohnen ausgewertet und brachte sie auf den neuesten Wissensstand. „Die Menschen leben immer noch in hierarchischen Sippen, und viel weiter sind sie in ihrer technischen Entwicklung auch noch nicht gekommen.“ Er rümpfte die Nase. „Wir haben also in unserer Stase nichts Wesentliches verpasst. Wenn wir uns abseits ihrer Siedlungen halten, dürften wir unbehelligt bleiben.“

Die sieben Zwerge machten sich bald Richtung Norden auf, um in den dortigen Bergen zu schürfen. Das Quartier war einfach aber gemütlich, die Drohnen sorgten für Nachschub an Nahrung und transportierten die gefundenen Erze und Kristalle die lange Strecke zum Schiff zurück.
Sib war beeindruckt, was die Lindwind in der Zeit der Zwergenstase alles organisiert hatte. Aber als er Doti darauf ansprach, beruhigte sie ihn. Sie hätte während ihres Kommandos ein vergessenes Hilfsprogramm gefunden, das sich automatisch einschalten würde, sollten die Zwerge alle gleichzeitig in Stase sein. Das ließ sich hier im Norden und weit weg von der Lindwind nicht überprüfen. Aber dazu sah Sib auch keine Veranlassung. Schließlich vertraute er Doti.
Nur selten noch sprachen die Zwerge von Yama, ihrem Heimatplaneten. Es gab keinen Weg dorthin zurück. Und Yuno hatte so oft vergeblich versucht, Kontakt herzustellen, dass sie es irgendwann ganz ließen. Sol-3, oder Terra, die Erde, wie die Menschen es nannten, war nun ihr Zuhause und würde es für den Rest ihres Lebens sein. Dieses Leben konnte recht lange dauern, wenn sie regelmäßig Phasen der Stase einlegten, in denen ihre Körper in den Kammern wie versteinert auf Reanimation warteten. Aber erst einmal brauchten sie neues Material, um die fortgeschrittene Technik ihres Schiffs zu erhalten, zu erneuern und auszubauen. Also gingen sie jeden Tag in den Berg.
Wieder war es Pin mit ihrer auffälligen weißen Mütze, die die nächste Begegnung mit einem der Menschen hatte. Doch dieser hier war kein Sigurd, dieser hier war höflich und harmlos.
„Guter Zwerg, zum Gruße. Ich hoffe auf Euren Beistand.“ Freundlich nickte der Mensch, der ein Pferd am Zügel mit sich führte, der erschrockenen Pin zu und blieb in respektvollem Abstand stehen.
Das schien eine ungefährliche Situation zu sein. Also traten die anderen Zwerge, die nun zu Bergleuten geworden waren, aus dem Schatten hervor. Sib bedeutete Pin, dem Menschen zu antworten.
„Zum Gruße. Ich heiße Pin. Zu Euren Diensten.“
„Mein Name ist Prinz Ehrenfried. Sehr erfreut“, sagte der Prinz mit einem Lächeln, das eher traurig denn erfreut zu sein schien. „Ich bin auf der Suche nach Prinzessin Witte. Sie lief fort aus dem Schloss hinter den sieben Bergen. Sie lief in diese Richtung, doch zu Fuß kann sie nicht weit gekommen sein. Habt ihr sie vielleicht gesehen?“
Pin drehte sich ratlos zu Sib und den anderen um.
„Nein“, sagte Sib an Pins Stelle, „seit langem sahen wir keine Menschen in diesen Wäldern. Sagt, warum lief die Prinzessin fort? Floh sie etwa vor euch?“
„Genau das möchte ich sie fragen, nämlich, warum sie floh. Ich weiß es nicht und möchte ihr kein Harm, denn ich liebe sie. Auch möchte ich sie fragen, ob sie heiraten und mich zum Mann nehmen mag.“
„Wie sieht sie denn aus, eure Prinzessin?“
„Sie trägt ein weißes Kleid. Ihr Haar ist so schwarz wie verkohltes Holz und ihre Haut ist so zart und weiß wie der unberührte Schnee auf den Bergen.“
„Wohlan, Herr Prinz. Falls wir sie treffen, richten wir aus, dass ihr sie sucht.“
Leicht verbeugte sich der Prinz. „Habt Dank, ihr guten Zwerge. Ein Stück werde ich noch diesem Pfad folgen und wenn sie dort nicht ist, zurückkehren und einen anderen versuchen. So wünscht mir denn Glück.“ Er neigte sein Haupt zum Abschied, bestieg sein Pferd und ritt langsam davon.
Noch lange unterhielten sich die Zwerge auf dem Weg in die Mine, wie höflich und freundlich der Prinz gewesen war. Am Abend kehrten sie zum Quartier zurück. Vor der Unterkunft lag ein Mensch. Weiße Haut und schwarze Haare. Aber derbe Hosen und ein grünes Hemd. Die Zwerge sahen sich an. War das die gesuchte Prinzessin?
„Erst wochenlang gar keiner und heute schon der zweite. Da muss ein Nest sein“ witzelte Bel. Dieser Mensch hatte die Behälter mit den Vorräten aufgebrochen, anscheinend davon gegessen und anschießend die Schlafunterlagen der Zwerge aus deren Hütte als Kissen unter seinen Kopf geschoben. Doti schlug ihre Werkzeuge zusammen, sodass es laut und vernehmlich klirrte und schepperte. Wie erwartet, wurde der Mensch davon wach.
Gleichzeitig fragten Doti und der Mensch: „Seid ihr Prinzessin Witte?“ „Seid ihr Zwerge?“
„Ja, wir sind Zwerge“ sagte Sib in die anschließende Stille hinein, „und ihr seid …?“
„Ich bin keine Prinzessin. Mein Name ist Witte. Prinz Witte. Verzeiht, dass ich Essen von euch nahm. Ich war sehr hungrig. Und mein letzter Proviant, ein Apfel, war verfault.“
Witte hatte mit einer Mahlzeit den Vorrat der Zwerge für eine ganze Woche aufgegessen. Je eher Prinz Ehrenfried hier auftauchte und Nichtprinzessin Witte mit sich nahm, desto besser. Sib flüsterte Yuno zu: „Hol schnell den anderen Prinzen zurück. Nimm eine der Rabendrohnen, damit holst du Ehrenfried ein.“ Bald darauf erscholl Hufgetrappel und Ehrenfried ritt heran. Die Zwerge zogen sich allesamt respektvoll in die Hütte zurück, um das Paar in Ruhe deren Differenzen ausdiskutieren zu lassen. Die Sieben hatten ihren Teil beigetragen, den Rest mussten die Prinzen selber klären.

Die Zwerge wollten nicht lauschen, ganz gewiss nicht. Aber die Unterredung zwischen Ehrenfried und Witte vor ihrer Hütte war nicht zu überhören
„Es ist mir doch völlig egal, ob du eine Prinzessin bist oder keine. Es ist mir egal, verstehst du. Ich liebe dich, Witte. Ich freite dich, weil ich dich liebe. Dich, Witte, den Menschen. Nicht deinen Titel oder dein Geschlecht.“
„Meine Familie versteht es nicht, dass ich mich endlich als Prinz zu erkennen gegeben habe. Und deine wird es auch nicht verstehen. Ich liebe dich auch, Ehrenfried, mehr als du dir vorstellen kannst, aber wir können als Paar nicht glücklich werden, fürchte ich.“
Die Zwerge in ihrem Quartier rollten mit den Augen. Diese Menschen waren so engstirnig in ihren merkwürdigen Paarungsriten, bei allem, was ihnen davon durch heimliche Beobachtung bekannt war. Sie selber hatten ein gleichgeschlechtliches Paar in ihren Reihen, Yona war auf eigenen Wunsch ungebunden und Bir, Doti und Sib waren zu dritt glücklich gewesen.
Pin linste verstohlen durch einen schmalen Spalt der Haustür, als es draußen zu lange still blieb. „Was machen sie, kannst du etwas sehen?“, fragte Tra in ihrem Rücken.
„Sieht für mich nach Versöhnung aus“, meinte Pin.
Neugierig geworden drängten jetzt doch alle an die Fenster und sahen, wie Prinz Ehrenfried vor Prinz Witte kniete und hörten ihn sagen: „Wir werden fortgehen. Weit fort von hier. Ich verzichte auf alle Titel, wenn ich nur bei dir sein darf. Sag, willst du mich heiraten, Witte? Bitte sei mein Gemahl.“
Was Witte leise antwortete, hörten Sib und die anderen Zwerge in der Hütte nicht und es ging sie auch nichts an. Sie schlossen daher die Tür und machten sich endlich daran, aufzuräumen, was Witte dort zuvor durcheinander gebracht hatte.
Bald darauf erklang Hufschlag und als Pin nachschaute, sah sie beide Menschen engumschlungen auf Ehrenfrieds Pferd von dannen reiten. Pin sagte kichernd zu Tra. „Die zwei sind so verliebt, die haben sich nicht einmal von uns verabschiedet.“
Im Bergwald kehrte Ruhe ein.

Kapitel 4 – Deman Charlie Sommer

Der Rollkoffer, den Deman C. Sommer hinter sich herzog, polterte holpernd über den gepflasterten Weg. Wie früher säumten unzählige Gartenzwerge den Hang. Oben am Sommerschen Haus wurden gerade die Läden geöffnet. Das bedeutete wohl, dass Demans Besuchszimmer gerade hergerichtet wurde. Eigentlich freute sich hen auf die Zeit mit den alten Eltern. So oft sahen sie sich nicht mehr, weil Deman seit Jahrzehnten im Norden wohnte und hens Eltern sich vor einiger Zeit in Thüringen niedergelassen hatten. Andererseits konnten die Altvorderen auch sehr anstrengend sein, wie Deman aus Erfahrung wusste. Aber ein paar Tage würden sie es wohl zusammen aushalten.
Deman konnte nicht schlafen. Unten im Wohnzimmer standen Bücher. Vielleicht war etwas dabei, das beim Einschlafen half.
Hen strich mit dem Finger über die Buchrücken. Ein roter Einband stand etwas hervor und Deman zog das Buch ganz heraus. Ein Fotoalbum.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ Demans Mutter kam ins Zimmer, mit einem Becher Tee in der Hand.
„Nein, keine Chance. Darf ich?“ Deman hielt das Album in die Höhe.
„Oh, das sind ja die Fotos von unserem ersten Urlaub hier im Ort. Natürlich darfst du. Weißt du noch, wie du uns erzählt hast, die Gartenzwerge am Teich hätten mit dir gesprochen? Das war zu niedlich, du hattest schon damals so viel Fantasie. Wollen wir uns die Fotos gemeinsam noch einmal ansehen?“
Sie setzten sich an den Esstisch, nachdem sich Demon ebenfalls eine Tasse Tee geholt hatte und blätterten durch die Seiten. Jedes Bild war liebevoll beschriftet. Und wo immer der Name Charlie stand, war er durchgestrichen und durch den Namen Deman ersetzt worden. Ein warmes Gefühl durchströmte hen.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Gästezimmertür. „Bist du schon wach, Deman? Darf ich reinkommen?“
„Klar, komm rein.“ Deman saß bereits angezogen am Schreibtisch und tippte etwas auf dem Laptop, der darauf stand.
„Ich wollte nur Bescheid sagen, dass es frische Brötchen gibt und wollte dich zum Frühstück holen, wenn du mit uns essen magst.“ Ihr Blick fiel auf das bereits hergerichtete Bett und auf das Kopfkissen, auf dem eine Stoffpuppe mit roter Zipfelmütze thronte. „Ach herrje, die hast du immer noch? Wie reizend.“
Deman lächelte, klappte den Computer zu und stand auf. „Heiner ist meine ständige Begleitung, habe ich immer dabei.“
Ihm Hinausgehen bemerkte Deman vor der Terrassentür einen einsamen Gartenzwerg zwischen den Blumenkübeln und den unzähligen anderen Tonfiguren, der sehr grimmig dreinschaute. Seine Mütze war von matter schwarzer Farbe. „Ist der neu?“, fragte hen.
Demans Mutter kam zurück ins Zimmer und schaute hinaus. „Welchen meinst du?“
Aber als Deman darauf zeigen wollte, war der Zwerg nicht mehr da, nur noch tiefer Schatten, unzählige andere Tonfiguren und etliche Windspiele, die sich sachte in der Brise bewegten. „Du hast dich wohl geirrt. Lassen wir deinen Vater nicht zu lange warten, komm.“
Als Deman einige Zeit später wieder ins Zimmer trat, hatte hen die Schwarzmütze ohnehin wieder vergessen. Es gab mehr Figuren als Blumen in diesem Garten, da fiel die Abwesenheit einer einzelnen Skulptur nicht auf.
Es war mitten in der Nacht, kurz vor Morgengrauen. Laue Luft aus dem blühenden Hanggarten wehte herein, bewegte lautlos die leichten Vorhänge in Demans Zimmer. Der fast volle Mond tauchte den Raum in träumerisches Licht. Etwas hatte hen geweckt. Deman lag mit halb geschlossenen Augen auf dem Rücken und lauschte in die Stille. Grillenzirpen, eine Nachtigall, entferntes Gebell eines Hundes. Eine Katze spazierte auf den Steinen der Trockenmauer vor dem Fenster vorbei. Aber sonst war es ruhig.
Müde drehte hen sich zur Seite, um trotz des hellen Scheins weiterzuschlafen, tastete nach dem vertrauten Stoff der Puppe, griff in etwas warm-wolliges, das leise quiekte. Hen riss erschrocken die Augen auf und starrte in das Gesicht eines Gartenzwergs, der ebenso erschrocken zurückschaute.
„Du darfst mich jetzt gern wieder loslassen“, sagte endlich der Zwerg, dem die dunkle Mütze auf dem Kopf verrutscht war.
Deman nahm die Hand von dem Wesen. „Entschuldigung.“ Ich träume doch, dachte Deman, das hier kann nicht real sein, oder?
„Entschuldigung angenommen. Und nun schlaf weiter und vergiss, was du gesehen hast.“ Der Zwerg zog etwas aus seiner Kleidung und zeigte damit auf die rote Mütze der Puppe. „Du hast etwas, das mir gehört.“ Mit diesen Worten richtete der Zwerg den Gegenstand auf Deman und drückte auf einen Schalter. Hen spürte ein leichtes Kribbeln an der Stirn, schloss die Augen, trotz der vielen Fragen, die nicht mehr über hens taube Lippen wollten und schlief wieder ein.
Die ersten Sonnenstrahlen, die über hens Nase kitzelten, weckten Deman erneut. Hen gähnte ausgiebig. Das war mal ein seltsamer Traum, dachte Deman, schlug die Augen auf und schaute irritiert auf die Stoffpuppe neben hens Kopf. Heiners rote Mütze war nun eine schwarze. Im Nu setzte Deman sich auf und blickte im Zimmer umher, die Abwesenheit von Zwergen feststellend. Woah, dachte Deman und dann sagte hen es noch einmal laut: „Woah!“

Kapitel 5 – Gartenschmuck Mimikri

Demans Gedanken bewegten sich in konzentrischen Abläufen. Immer wieder ging hen das nächtliche Geschehen durch. Was habe ich da eigentlich gesehen, fragte hen sich ein ums andere Mal, ging alle Möglichkeiten durch, bis nur noch die zwei Alternativen blieben: Entweder bin ich komplett überarbeitet und habe vor Erschöpfung Halluzinationen, oder dieser Gartenzwerg war tatsächlich lebendig. Die schwarze Zipfelmütze auf Heiners Kopf sprach für letztere. Aber noch weigerte sich Demans Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren. Vergebens versuchte Deman sich auf das Manuskript an hens Laptop zu fokussieren. Und wieder drehten die Gedanken ihre Runde in hens Gehirn, bis der Kopf schmerzte. Hen brauchte Kaffee.
Am Frühstückstisch machten Demans Eltern Pläne für den heutigen Tag. Sie wollten unten im Dorf einkaufen. Geistesabwesend bekam Deman von der Unterhaltung nur am Rande etwas mit, bis eine Bemerkung hen doch aufhorchen ließ. Demans Vater sagte gerade: „… schon wieder weg, dabei war ich mir sicher, wir hätten neulich erst genug davon eingelagert. Ich glaube wir haben Mäuse oder sogar Ratten.“
„Aber woher kommen die anderen Gegenstände, die Kristalle und Steine in der Speisekammer? Ich hab die da nicht hingelegt, und du wohl auch nicht.“ Hens Mutter sah ratlos aus. „Eichhörnchen machen so etwas, oder Raben, habe ich gehört. Aber hier im Haus?“
Das passte ins Bild. In Demans Kopf formten sich vage Ideen. Aber das musste warten, denn die Eltern hatten den Einkaufszettel fertig und wollten zusammen mit Deman aufbrechen. Hen zog sich feste Schuhe an und begleitete die beiden den Berg hinunter. Auf halber Strecke fiel hen siedendheiß ein, dass hen vergessen hatte, den Laptop zu sichern – und die Terrassentür stand immer noch offen. Gab es in der Gegend Diebe? Die Antwort lautete: Ja. Auch wenn Deman nicht so genau wusste, welche Art Diebe hen gerade mehr fürchtete. „Ich habe etwas vergessen. Treffen wir uns am Marktbrunnen?“
Demans Mutter nickte und bat hens Vater: „Gib hem den Hausschlüssel.“
Deman steckte den Schlüssel ein, den hen nicht brauchen würde und eilte den Weg zurück. Aber das mit der offenen Tür nun auszudiskutieren, hätte Zeit gebraucht. Deman hatte ein ganz und gar ungutes Gefühl und begann hinter der nächsten Biegung zu rennen.
Am Gartentor angekommen, musste hen erst ein wenig verschnaufen, bis der Atem wieder ruhiger wurde, und vor allem leiser. Vielleicht konnte hen den kleinen Dieb in der Speisekammer auf frischer Tat erwischen. Hen schlich ums Haus herum, betrat durch die offene Tür hens Zimmer und blieb verdutzt stehen. Der Zwerg mit Heiners roter Mütze hantierte an Demans offenem Laptop herum. Zahlenketten von Code liefen über den Bildschirm. Es sah absurd aus, wie das winzige Wesen auf der Tastatur herumhüpfte. Das war unerwartet.
„Was machst du da?“
„Quarzit!“ fluchte der ertappte Gnom, drückte eilig ein paar Tasten, die das laufende Programm beendeten, und zielte mit einem Gegenstand auf Deman. Hen wich zur Seite aus und warf sich hinter das Bett in Deckung. Damit war der Weg zur Terrassentür frei. Der Winzling erkannte die Gelegenheit zur Flucht und nutzte sie. Deman lugte hinter dem Bettgestell hervor und sah gerade noch, wie der Zwerg in irrwitziger Geschwindigkeit vom Tisch auf den Stuhl sprang und in den Garten hinaus flitzte.
Hen rappelte sich auf und folgte. Wie konnte diese kleine Kreatur so schnell sein, fragte hen sich. Verwirrt schaute sich Deman im Berggarten um. Überall Gartenzwerge. Aber keiner bewegte sich. Halt, doch. Ein Windstoß zuppelte an der Mütze der einen Skulptur. Der dort war definitiv nicht aus Ton, folgerte hen.
Deman rannte zu der Gruppe und eine der Schmuckfiguren – die mit Heiners Mütze – rannte nun auch wieder. Im Zickzack ging die Verfolgung weiter. In einem unaufmerksamen Moment kickte Deman einen der Tonzwerge, der auf dem Plattenweg zerschellte. Unter den Tonscherben kam ein stählernes Gerüst zum Vorschein. Deman blieb verblüfft vor dem Scherbenhaufen stehen.
Auch der flüchtende Gartenschmuck war bei dem Klirren stehengeblieben und starrte auf das Metallskelett. „So ist das also“, sagte der Zwerg. Und dann klang seine zeternde Stimme nur noch dumpf durch den Stoff von Deman verschwitztem Holzfällerhemd, das hen ihm in dem Moment der Ablenkung übergeworfen hatte.
„Hab ich dich!“
„Quarzit“ kam es gedämpft aus dem Stoffbündel.

Kapitel 6 – Auf der Suche nach Antworten

Dieser Mensch hatte es gewagt, mich in ein Glasgefäß zu sperren, dachte Sib erbost. Aber ihm lief die Zeit davon. Er brauchte dringend den flachen Kommunikator, den Laptop, um mit Yuno Kontakt aufzunehmen. Sib erinnerte sich an Begegnungen mit den großen Wesen, an Sigurd, an Ehrenfried und all die anderen. Manche waren schlimm gewesen, andere respektvoll. Wie würden die Chancen diesmal stehen? Sib hatte keine Wahl, es stand zu viel auf dem Spiel. „Hallo! Du, Mensch! Ich brauche Zugang zu deinem Gerät.“
„Erstens heiße ich Deman. Zweitens bist du ein Dieb. Du hast Heiners Mütze genommen, und dich in der Speisekammer bedient. Warum glaubst du, in der Position zu sein, Forderungen stellen zu dürfen?“
Dieser Mensch, Deman, klang zwar vorwurfsvoll, wurde aber nicht aggressiv und sah ihn zudem neugierig an. Das ließ Sib hoffen, Deman mit Argumenten überzeugen zu können. Er musste es einfach riskieren: „Also gut, dann eben der Reihe nach. Mein Name ist Sib, Sib von Yama. Zweitens ist das meine Mütze, ich habe sie vor Jahren am Teich verloren, als mich der Reiher angriff. Wieso eigentlich hattest du die? Egal. Ich stehle nicht, nie, ich tausche. Und ich brauche deine Hilfe, fürchte ich.“
„Du warst das? Vor Jahren, bei den Fischen? Der Wichtel, der ins Wasser gefallen war?“
„Ahem“, räusperte sich Sib und verbesserte: „Kein Wichtel, ich bin Zwerg. Ja, das war ich damals. Was für ein erstaunlicher Zufall, somit kennen wir uns tatsächlich von früher. Zwerge können nicht schwimmen. Wir gehen unter wie Eisenerz.“ Sib verbeugte sich, soweit die Glaswände es zuließen. „Ich danke für die Rettung, Deman. Und dass du meine Mütze aufbewahrt hast. Aber nun flehe ich dich an, mich noch einmal zu retten. Mich, uns Zwerge und alle Menschen dieses Planeten. Es gilt, eine große Gefahr abzuwenden. Aber das schaffe ich nicht allein.“
„Uns Zwerge, Plural? Es gibt also mehr von deiner Sorte? Lebendige Gartenzwerge? Moment, ich hole dich zuerst aus dem Gurkenglas. Sorry dafür.“
Sib kletterte aus dem geneigten Gefäß und setzte sich auf einen Bücherstapel auf dem Schreibtisch. „Ja, wir waren acht, aber jetzt nur noch sieben. Im Moment bin ich alleine hier und quasi auf der Flucht. Bei unserer ersten Begegnung war ich mit Yuno in der Gegend, um einem Verdacht nachzugehen. Dey hatte eine neue Tarnvorrichtung entwickelt, die uns mobile Stase ermöglicht.“
Deman schaute verwirrt.
„Wir sehen dann aus wie eure Gartenzwerg-Schmuckfiguren. Meist fallen wir dadurch nicht auf. Keine Ahnung, warum ihr Menschen künstliche Figuren nach unserem Vorbild mögt und überall aufstellt. Eure Marotte kam uns jedoch sehr entgegen, um unentdeckt zu bleiben. Aber etwas war seltsam damals, ich habe nur nicht herausgefunden, was es war.“
Sibs Magen knurrte im Leerlauf. „Sag mal, Deman, hast du etwas zu essen für mich?“
Deman ging in die Speisekammer, nahm das Gurkenglas mit sich und kam mit Keksen und einer Flasche Saftschorle wieder. „Ich hoffe, du magst Sandkringel mit Kristallzucker?“ Vorsichtig goss Deman etwas aus der Flasche in den Verschluss, den hen dem Zwerg reichte und goss sich selbst auch ein Glas ein.
Kauend erkärte Sib weiter: „Ihr Menschen wisst, dass ihr nicht alleine im Universum seid?“
Deman grinste. „Sag bloß, ihr seid Außerirdische?“
Das Grinsen erstarb auf hens Lippen, als Sib bestätigte: „Jawohl, wir kamen von Yama. Unser Schiff stürzte ab und wir verloren den Kontakt zu unserer Heimatwelt.“ Sib verbot sich, jetzt an Bir zu denken. „Ich fand erst kürzlich heraus, dass wir nicht zufällig auf diesem Planeten gelandet waren, auch wenn der Absturz nicht geplant war. Unser offizielles Ziel war, Daten zu sammeln, zu forschen. Insgeheim aber sollten wir nach geeigneten Planeten suchen. Ob Bir davon wusste, weiß ich nicht“ Da. Nun hatte Sib den Namen doch ausgesprochen. Irgendwann musste er sich wirklich die Zeit nehmen, das Trauerritual für seinen Partner abzuschließen. Sib schluckte die Tränen hinunter. „Jedenfalls war vermutlich mindestens Doti eingeweiht. Wir haben noch nicht alles herausgefunden, Yuno und ich. Die Mechanik von der Figur, die du zertreten hast, würde ich mir gerne genauer ansehen. Ich habe da einen Verdacht. Dazu brauchte ich Werkzeuge, ein Versteck und deinen Kommunikator, äh, den Laptop.“
„Puh, das ist alles ein wenig viel Neues auf einmal. Bis gestern wusste ich nicht, dass es euch gibt.“ Deman hielt inne. „Nein, das stimmt so nicht ganz, wenn ich diese Teichgeschichte mitrechne. Es wurde mir jedoch so lange als kindliche Fantasie ausgeredet, bis ich selbst nicht mehr glaubte, was ich gesehen habe. Ich hatte nur Heiners rote Mütze als Beweis.“
„Ich glaube gerne, dass es verwirrend für dich ist, aber können wir das Wundern hintenan stellen und du entscheidest dich flugs, ob du mir hilfst?“
„Oh, natürlich. Ob ich dir helfe? Keine Frage. Mache ich. Warte kurz, ich besorge dir alles.“
Deman sammelte draußen die Scherben auf und entsorgte sie. Dass der Zwerg keine erfundenen Geschichten erzählte, war offensichtlich, angesichts des technischen Innenlebens der kaputten Tonfigur. Deman sammelte das Skelett aus Metall vorsichtig auf und brachte es ins Zimmer. Hen richtete Sib eine ruhige Ecke ein, in der er die Maschine untersuchen konnte, ohne sofort gesehen zu werden, falls jemand den Raum betrat oder vom Garten aus hereinsah.
„Das wird vermutlich etwas dauern. Ich muss herausfinden, wie dieses Ding gesteuert wird. Und die Daten mit Yuno abgleichen. Hoffentlich schafft dey es, unbemerkt mit mir zu kommunizieren.“ Sib zog einige Streben beiseite und begann mit den Feinmechaniker-Werkzeugen zu schrauben, die Deman ihm aus der Toolschublade hens Mutter in der Küche besorgt hatte.
Siedendheiß fiel Deman die Verabredung mit den Eltern ein. „Lass dir Zeit. Ich muss ohnehin noch etwas erledigen. Bin bald wieder hier.“ In der Tür drehte hen sich noch einmal um. „Es ist wohl in unser beider Sinne, wenn ich hiervon niemandem erzähle.“ Dann hetzte Deman, ohne die Antwort des beschäftigten Zwerges abzuwarten, aus dem Haus und den Berg hinunter.

Die Eltern saßen, an Eistüten leckend, am vereinbarten Treffpunkt, dem Brunnen am Marktplatz. Ihre Einkäufe standen in Stoffbeuteln zu ihren Füßen. Sie sahen entspannt aus. Deman atmete auf. „Sorry, wollte nur schnell etwas im Internet nachlesen“, log Deman. Hens Eltern grinsten wissend. Sie kannten ihr Kind und wussten, dass hen am PC oft die Zeit vergaß. Auch Deman holte sich ein Eis, ein kleines, mit Lakritzstreuseln obenauf. Die drei plauderten noch eine Weile über belanglose Dinge und gingen anschließend langsam mit den schweren Taschen zurück zum Haus.
Deman half, die Einkäufe in der Speisekammer zu verstauen. Die kleinen verräterischen Fußtapsen verwischte hen, bevor die Eltern sie entdecken konnten. Dann verabschiedete sich hen: „Ich werde noch ein wenig in meinem Zimmer schreiben, wartet nicht mit dem Essen auf mich.“
„Bei dem schönen Wetter in der Bude? Na, das musst du selber wissen“, sagte hens Mutter und legte sich mit einem Buch auf die Liege unter der Pergola, während Demans Vater in der Küche werkelte.
Sib winkte Deman aufgeregt heran, als hen den Raum betrat. Sicherheitshalber zog Deman zunächst die Vorhänge zu und schloss die Tür ab.
„Es ist schlimmer, als ich geahnt habe“, sagte Sib. Er deutete vom zerlegten Innenleben der Gartenfigur auf den offenen Laptop. „Ich konnte heimlich mit Yuno Kontakt aufnehmen. Dey hat davon mehr Ahnung als ich. Deren Analyse am Computer der Lindwind, unserem Raumschiff, hat ergeben, dass es Tausende dieser präparierten Tonfiguren gibt. Und sie alle warten auf den einen Impuls, der sie aktiviert. Sie sind in Reihe geschaltet. Wenn einer das Signal empfängt, gibt er es an die … wie nennen wir die denn mal … Terminatoren in seiner Umgebung weiter, diese wiederum an weitere in ihrer Nähe.“
„Terminator klingt ziemlich endgültig. Was ist eigentlich deren Funktion?“
„Weltherrschaft.“ Sib hob ein Metallteil hoch. „Wenn dieses Sendemodul aktiviert wird, bricht der Terminator aus der tönernen Hülle. Keine Angst, ich habe das Modul unbrauchbar gemacht.“ Sib schob mit dem Fuß einen länglichen Gegenstand beiseite. „Und sie sind alle hiermit bewaffnet.“
So einee Waffe hatte Deman schon gesehen und vor allem gespürt, als Sib hen damit in der vergangenen Nacht betäubt hatte. „Waffe würde ich das jetzt nicht nennen.“
Sib schüttelte den Kopf. „Die sind viel stärker, glaub mir. Wenn du von meinem Sleeper getroffen wirst, schläfst du ein paar Stunden. Wenn du von diesem erwischt wirst, wachst du nicht mehr auf.“
„Verstehe. Wer würde den Befehl dazu geben, und warum? Was genau passiert, wenn die Terminatoren aktiviert werden?“ Deman wunderte sich selbst, dass hen so ruhig da saß und Fragen stellte, obwohl Sib gerade erzählte, dass eine Armee von Killerzwergen existierte.
„Yuno vermutet, dass es ein Unter-Programm in der Lindwind gibt, das vor unserem Start als Notfall-Protokoll hinterlegt wurde.“ Sib begann zu weinen. „Yama gibt es nicht mehr. Unser Planet wurde zerstört. Die vom inneren Kreis haben das gewusst und es für sich behalten. Unser heimliches Ziel war, einen geeigneten Planeten für eine Besiedlung zu finden. Uns haben sie erzählt, wir würden die Galaxis erforschen, wo nie zuvor ein Zwerg gewesen war.“ Sib zog die Nase hoch, bevor der Schnodder in seinen Bart rinnen konnte. Deman reichte ihm ein Tuch. Sib wischte sich die Tränen ab und schneuzte sich. Unter Schluchzern fuhr er fort: „Es gab vor langer Zeit eine letzte Nachricht von Yama. Eine Abschiedsbotschaft. Ich vermute, dass Doti sie gelesen und verborgen hat. Warum auch immer. Aber während wir ahnungslos zwei Jahrhunderte in unseren Stasekammern standen, lief die automatische Fabrikation des Schiffs an. Ich kam erst vor ein paar Jahren darauf, dass etwas nicht stimmte. Du warst dabei, damals am Fischteich. Ich wollte untersuchen, warum es hier herum plötzlich so viele Figuren, Gartenzwerge gab.“ Sib prustete erneut ins Tuch. „Es tut mir so leid, Deman.“
„Ich verstehe nicht. Was tut dir leid?“
„Dass wir mit diesen Killermaschinen euren Planeten zwergentauglich machen werden. Ohne Menschen. Ihr werdet vermutlich alle terminiert.“
Am Armreif des Zwerges leuchtete ein Signal auf und Sib sah auf Demans Laptop. Einige Runenartige Symbole erschienen und brachen kurz darauf ab. „Quarzit! Eine Warnung von Yuno. Sie wissen, wo ich bin. Hoffentlich konnte Yuno deren Spuren bei demms Schnüffelei verwischen.“
„Wie viel Zeit bleibt uns?“ Deman sprang auf. Hens Herz raste.
„Vielleicht ein paar Stunden, bis sie hier sind?“
Aufgeregt ging Deman im Zimmer auf und ab. „Wir können nie alle Terminatoren finden und unschädlich machen. Das würde bei der Menge wohl auch auffallen.“ Deman blieb grübelnd stehen, tausende Gedanken schossen durch hens Kopf. „Ein paar Stunden sind auch definitiv zu wenig, um irgendwelche Autoritäten zu alarmieren. Die würden ohnehin kein Wort glauben. Und dich vermutlich in einem Versuchslabor verschwinden lassen.“ Deman nahm hens Wanderung wieder auf. Gab es eine Chance, gegen Tausende Gartenzwerg-Terminatoren zu kämpfen, ohne Verluste? Noch hatte niemand auf den Knopf gedrückt. Aber wenn es stimmte, was Sib prophezeite, war dies der Anfang vom Ende.
Doch was, wenn schon der Anfang verhindert werden konnte?

Kapitel 7 – Operation Gartenzwerg

Sie kamen bei Anbruch des nächsten Tages. Die Rabenschwingen der mechanischen Vögel wirbelten Staub auf dem verlassenen Parkplatz der Möbelhausruine auf. Aus einer vergessenen Abfallkiste am Rand, hinter der sich Deman versteckte, lugten rote Zipfelmützen hervor. Terminatorzwerge? Die waren wirklich überall. Deman umklammerte das Brecheisen mit schweißnassen Händen. Wem wollte hen etwas vormachen? Hoffentlich konnte hen damit die Killerzwerge aufhalten. Hoffentlich musste hen es nicht.
Deman und Sib hatten diesen Platz fernab des Dorfes mit Bedacht gewählt, er war weit genug weg von zufälliger Entdeckung durch Menschen, so hofften sie. Sib hatte an seinen Kommandoreif die Standortfreigabe eingeschaltet, um seine Crew hierher zu locken. Das war erfolgreich, denn bald darauf landete ein Robovogel nach dem anderen. Die Zwerge stiegen ab und stellten sich im Halbkreis um Sib herum auf. Das verfallene Gebäude in seinem Rücken bot nur gefühlte Sicherheit.
„Doti.“ Sib neigte grüßend sein Haupt. Sah in die Runde der anderen Zwerge, Dört und Bell, die ihn feindselig betrachteten. Tra, der eher neutral-neugierig aussah und Yuno, dey ein ausdrucksloses Gesicht machte, das Sib nicht deuten konnte. Nun würde sich entscheiden, wer auf wessen Seite stehen würde.
„Sib“, grüßte Doti zurück. „Du warst schon immer viel zu neugierig. Wie hast du es herausgefunden?“
„Dass du die Menschheit ausrotten willst?“
Die beiden Zwerge mit den blauen Mützen sahen sich erstaunt an. Tra kratzte sich verwirrt unter der grünen Mütze.
„Das habt ihr nicht gewusst, oder?“ Sib ging einen Schritt auf Doti zu. „Warum, Doti, warum? Yama gibt es nicht mehr. Es wird keine Umsiedlung auf diesen Planeten geben. Wir sind die letzten.“
„Ja, doch wir werden noch recht lange leben. Dafür werden die Menschen immer mehr, die vermehren sich wie Ratten. Sie zerstören ihren eigenen Planeten. Ich lasse nicht zu, dass sie uns diesen auch noch wegnehmen. Schau dir doch an, was wir für sie sind. Alberne Witzfiguren, Rasenschmuck. Erinnere dich an Sigurd und wie gierig er war. Er und alle anderen, die uns berauben wollten.“
Ausgerechnet jetzt, in dieser gefährlichen Situation, in der die Stimmung kippen konnte, produzierte Demans Gehirn sarkastische Gedanken: Ist wohl gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um zu erwähnen, dass wir nicht alle so sind. Fast hätte Deman aufgelacht. Aber hen zwang sich, trotz des heftigen Herzschlags, der hen fast ohnmächtig werden ließ, ruhig zu bleiben, zu atmen und der Diskussion zu folgen. Aliens und Killerzwergen zum Trotz – Deman würde nicht zulassen, dass Sib etwas passierte. Hens zitternde Hände sprachen eine andere Sprache. Es hing wohl doch alles von Sib ab und Deman wäre stille Reserve, ein Plan B.

Doti hatte sich inzwischen in Rage geredet. Die anderen neben ihren Raben hörten aufmerksam zu. „Terra ist mit uns besser dran. Wir werden eine Zukunft für uns aufbauen, ohne Menschen, ein Imperium der Zwerge.“
Aus dem Augenwinkeln sah Sib, wie Yuno sich etwas zurückzog und ihm verstohlen Zeichen machte. Was dey auch immer damit meinte, Sib würde demm genug Zeit verschaffen, für welchen Plan auch immer. Sib hoffte inständig, dass es einen solchen Plan gab. Doti hinhalten, ablenken, so lange wie möglich, sagte er sich. „Ein Imperium der Zwerge? Ohne Bir sind wir nur noch sieben. Was für ein Imperium soll das sein?“
Doti kreischte fast, als sie schrie: „Wage es nicht, seinen Namen zu nennen. Ich habe eine Armee. Damit werden wir eine andere Zivilisation aufbauen.“
Sib konnte sich denken, welche Armee sie damit meinte. Bel, Dört, Pin und Tra beobachteten die Szene abwartend. Sie scheinen wirklich keine Ahnung zu haben, dachte Sib. Yuno war nicht mehr zu sehen. Gut so. „Doti, er war nicht nur dein Gefährte, sondern auch meiner. Denkst du wirklich, er hätte das hier gewollt? Oder wusste er sogar Bescheid?“
„Er wusste nichts. Bir ist völlig umsonst gestorben.“ Doti zog einen Hammer aus ihrem Gürtel, sah das Werkzeug an, als wären da doch Zweifel.
„Bitte Doti, wir werden eine Lösung finden. Was immer du vorhast, tu es nicht. Wir können uns mit den Menschen arrangieren. Einige sind ganz nett, weißt du.“
Doti streckte die Faust mit dem Hammer aus. „So wie der Feigling dort hinter der Kiste? Komm raus, wir wissen längst, dass du da steckst. Komm näher, ich will sehen, ob du wirklich nett bist.“

Seufzend erhob sich Deman, hens Knie weich wie Kreideschlamm. Dieser wütende Zwerg kann kursive Wörter so aussprechen, dass sie sich sogar kursiv anhören. Soviel zu Plan B, dachte Demans panisches Gehirn. Langsam kam hen aus dem Versteck, das Brecheisen hinter dem Rücken versteckend.
„Da siehst du, wie nett er ist, mit einer netten Waffe.“
„Hen“, sagte Sib.
„Was?“
„Demans Pronomen. Hen ist jedoch wirklich nett.“
Deman stellte sich wortlos neben Sib, das Brecheisen vor sich auf dem Boden aufstützend. Es gab hem trügerischen Halt. Doti musste zu hem aufblicken, aber ihr Blick sah auf hen hinunter.

„Bist du für oder gegen uns? Entscheide dich jetzt“, sagte Doti drohend, wieder an Sib gewandt.
Hinter ihr ertönte Tras ruhige Stimme: „Es gibt kein uns, ich bin raus.“
Deman und Sib warteten auf die Stellungnahme von Dört und Bel. Auf wessen Seite würden die sich schlagen? Die beiden Blaumützen tuschelten, dann fragte Pin: „Welche Armee, Doti, magst du uns das erklären?“
Doti schwieg. Zitterte. Ob vor Wut oder aus anderen Gründen vermochte Deman nicht zu deuten.
„Dann sage ich es euch“, rief Sib. „Die Lindwind hat heimlich eine Armee von tödlichen Drohnen erschaffen. Und Doti hat die Macht, diese zu steuern.“
„Hammer und Silikat! Das geht zu weit, Doti. Ohne uns.“
„Ja, haut nur ab. Lasst mich allein. Lasst mich ruhig alle allein. Ich brauche euch nicht. Keinen von euch.“ Wütend warf Doti ihren Hammer in Sibs Richtung, der mit Wucht auf Demans Brecheisen schlug und zu Boden fiel. Deman wunderte sich später, wie hen es geschafft hatte, das Geschoss damit abzufangen.
„Für Yama!“, brüllte Doti und drückte eine Kombination auf ihren Kom-Band.
In der Abfallkiste begannen die Gartenzwerge von innen heraus zu leuchten.
„Gar nicht gut“, sagte Deman panisch. Wie viele von den Terminatoren waren in der Kiste? Gelähmt vor Angst starrte Deman auf die Gartenzwerge, die unheimlich vor sich hin gühten.
„Doch, doch, passt schon“ rief vergnügt ein grinsender Zwerg namens Yuno, dey gerade herangeschlendert kam. Sib legte demm die Hand auf die Schulter: „Du hast es hinbekommen?“
„Yuno nickte. „War nicht so einfach, aber du kennst mich ja. Schau, die sind keine Gefahr mehr.“
Das Leuchten wurde zu einem Knacken, dann erlosch es unspektakulär. Keine berstenden Tonkörper, keine mordenden Killer-Drohnen. Es waren plötzlich einfach nur noch leblose, ausgemusterte Gartenzwerge aus Ton mit angeschlagenen Stellen.
„Hab die Programmierung so verändert, dass die sich bei Aktivierung selbst zerstören. Bin ich gut?“
Doti heulte auf und drückte immer wieder auf das Pad an ihrem Arm. „Nein, nein, nein.“
Langsam ging Sib auf sie zu. „Doti, meine Liebe, es ist vorbei. Es tut mir leid, dass ich nicht mitbekommen habe, wie sehr du leidest.“
Die anderen kamen nun auch näher, bildeten einen Kreis um die schluchzende Doti, murmelten Beruhigungen.
Deman fuhr die Erleichterung in die Glieder. Hens Beine wollte hen nicht mehr tragen. Deman plumpste neben die Gruppe. Das Brecheisen legte hen neben sich ab, froh, es nicht benutzt haben zu müssen. Ob sich Heldenpersonen immer so fühlten, nachdem sie die Welt gerettet haben?

Kapitel 8 – Kleine Hände

Jahre später. Deman C. Sommer saß entspannt in einem bequemen Stuhl am Gartenteich. Ein Flügelschlagen kündigte hens Gast an, der gleich darauf seinen Roboraben auf einem bemoosten Felsen oberhalb des Teiches landete. Flink kletterte Sib den schmalen Pfad hinunter zu Deman.
„Bin ich zu spät zur Fütterung? Sind noch Semmeln da?“
„Semmel für dich und Spezialfutter für die Zierfische.“ Deman deutete auf ein Tablett mit Brotzeit, das für Sib bestimmt war und eine kleine Schale mit Fischfutter. Sib aß schweigend und sah Deman beim Füttern der Fische zu, in gebührendem Abstand zum Wasser.
„Wie geht es Doti?“, fragte Deman, als Sib fertig gegessen hatte.
„Sie begreift allmählich, dass sie uns hat und wir sie nie verlassen werden. Wir kümmern uns. Ich glaube, die Zeit damals, als sie monatelang allein in der Lindwind wach war, mit dem Wissen, dass Yama zerstört war, hat sie zerbrechen lassen. Wir alle wussten nach dem Absturz, dass es für uns keine Rückkehr geben würde, aber da war immer noch die Heimat da draußen, weißt du, Hoffnung.
Doti hat sich tapfer geschlagen, nachdem Bir … Wir drei waren liiert, aber ich habe nicht gemerkt, wie tief ihr Schmerz über den Verlust, und alle anschließenden Verluste, wirklich war. Plötzlich hatte Doti die ganze Verantwortung, durfte vom Geheimprojekt nicht erzählen, und wir alle haben sie nicht unterstützt. Dann noch die unerfreuliche Geschichte mit Sigurd, das alles hat sie nicht verkraftet. Und wir haben es nicht gesehen.“
Sib und Deman schwiegen eine Weile gemeinsam.
„Und wie läuft es in unserer neuen Firma, ist der Aufsichtsrat der Heiner & Co AG mit unseren Entwürfen zufrieden?“
Deman strahlte Sib an und nahm ein flaches Etui vom Tisch.
„Schau her, ich hab hier bereits den Prototyp unseres neuen Multi-PC, Mariposa. Einsetzbar als Wandtafel“, hen entfaltete das Teil auf seine gesamte Breite, knickte den unteren Teil ein und stellte den Bildschirm darauf auf den Tisch zwischen die leeren Teller. „Unkaputtbar“, Deman knüllte den Bildschirm zu einer kleinen Kugel zusammen, „und für alle individuell nutzbar.“ Hen tippte auf einen Sensor an dem entknitterten Mariposa und das Teil verformte sich vor ihren Augen automatisch in eine Klavier-Tastatur. Deman spielte ein paar schräge Töne und rollte das Teil zu einer handlichen Röhre, die sich gleich darauf wieder in ein flaches Etui veränderte.
„So, wie ich Yuno, Dört und Bel kenne, kann das Teil in Gänze recycled werden?“
Deman nickte. „Sie haben dafür Teile der Lindwind-Fabrikation ausgeschlachtet und vor allem Naniten eingebaut, die immer wieder eingesetzt werden können. Sie haben gute Arbeit geleistet. Die Produktion beginnt, sobald alle Tests durchlaufen sind.“
Sib spielte selbst noch ein wenig mit dem Porototypen herum. „Sieht gut aus“, sagte er und lehnte sich entspannt in die weichen Kissen seiner Sitzgelegenheit. Sie schwiegen eine Weile und hingen ihren Gedanken nach.
„Tra und Pin haben übrigens endlich zueinander gefunden“, sagte Pin in die Stille hinein. Er sinnierte: „Hat ja auch nur ein paar Jahrhunderte gedauert. Sie sind dabei, eine neue Zwergengeneration herzustellen.“
Deman grinste breit. „Ist die Wahl deiner Formulierung angemessen, junger Zwerg?“
Sib grinste zurück, antwortete aber nicht auf die Frotzelei.
Wieder schwiegen sie einvernehmlich. Im Westen ging die Sonne in einem Meer von leuchtenden Farben unter, die den Regen des nächsten Tages ankündigten. In der hohen Schwarzkiefer begann eine Amsel ihr Abendlied zu flöten. Ein schwerer Duft vom Fliederbusch wehte herüber.
Schläfrig blickte Sib umher. Irgendetwas fehlte. Da waren viel zu viele leere Sockel im Garten. „Ah, ich sehe, du hast unsere Verwandten aus Ton endlich entsorgt.“
„Jo“, sagte Deman, „es war an der Zeit.“

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