Fredeke (1)
Geschichte wird geschrieben
Das war die Vorgabe für den letzten Schreibwettbewerb im Herbst 2006 auf t.c.boyle.de.
Von 70 eingereichten Geschichten landete ich mit Fredeke unter den ersten 13 Storys. Das freut mich um so mehr, als ich bei der Bekanntgabe der Autoren entdeckte, aus welchen Kreisen meine Konkurrenz stammt.
Flicka (Das Mädchen)
Fredeke, die schwedische Magd, tanzte an diesem Maimorgen, zwei Stundengläser vor Sonnenaufgang, im bleichen Mondschatten auf der Wiese am Fluss hinter dem Haus, zu einer Melodie, die so alt war wie die Menschheit selbst. Sie schien laut und fröhlich zu singen – ihre Lippen bewegten sich – das konnte ich erkennen, als die kleine Elfe gelegentlich an meinem Kammerfenster vorbei huschte – doch war kein Laut von ihr zu hören. Der Saum ihres taufeuchten Leinenhemdes klebte bei jeder Drehung an den weißen Waden ihrer Beine. Die kleinen Füße stampften Butter aus den Butterblumen, Hühnerkacke glitschte durch die Zehen und die sonst so schweren Holzeimer, mit denen Fredeke Wasser aus dem Brunnen holen wollte, wirbelten mit der Leichtigkeit abgefeuerter Katapultschlaufen an ihren Armen. Das lange blonde Haar, sonst zu Zöpfen geknebelt unter der dunklen Haube verborgen, schlug ihr über das Gesicht wie der Schweif des Spannpferdes Lotte, wenn es Fliegen von seinem Hinterteil wischte.
„Nanu, nanu, wieso war das kleine Ding so fröhlich? Und wieso lief sie draußen herum, mitten in der Nacht?“ fragte ich mich, und drückte meine Nase noch näher an die vor Fliegendreck halbblinden Scheiben. Hatte sie je gelacht, seit sie vor einem Jahr hier auf dem Hofe des Wassermüllers August Orsbedreier zu Ovensen ihren Dienst in der Fremde angetreten ist? Wäre ich nicht so greis und malade, ich hätte ihr schon Grund zum Jauchzen gegeben, ihren roten Mund zum Seufzen gebracht. Aber nun erinnerte ich mich kaum noch daran, was junge Burschen mit ihren Mädchen im Mondenschein anstellen, und die siechen Knochen ließen mich des nachts kaum mehr ruhen. Aber der Junge, der sich dort hinten heimlich um die Ecke der Scheune drückte, wie ein Fuchs am Kaninchenstall, der wusste es wohl besser. „So ist das also“, schmunzelte ich in mich hinein. „Oh, lasst euch nur nicht vom Müller erwischen“, dachte ich. Die Narben auf meinem Rücken erzählten, wie lose der harte Mann die Gerte zu handhaben wusste.
Das hatte er erst gestern wieder bewiesen, als er seinen biegsamen Stock auf dem Rücken des Geld-Juden tanzen ließ. Was war das für ein Spektakel gewesen: der wüst schimpfende Orsbedreier, der mit seinem Stecken – Hieb um Hieb – auf den armen Moshe Silbermann eindrosch. „Er würde sich sein Recht beim Amtmann holen“, hatte der Jude am Hoftor gekreischt. „Zehn Gulden und fünf Kreuzer sei ihm der Müller schuldig“, doch der hatte nur böse gelacht und den Hund, diese schwarze, halbirre Bestie Wotan, auf den Gläubiger gehetzt. Ob der Müller damit durchkam? Sicherlich. Der hatte schon ganz andere, schlimmere, Dinge getan und vermutlich würde ihn auch diesmal niemand zur Rechenschaft ziehen. Silbermann würde sein Geld nicht wiedersehen. Genau wie damals, dieser Junge, wie hieß er gleich… einer der Müllergehilfen, war in den Mühlteich gefallen. Hatte keine Familie gehabt. „Den vermisst doch niemand“, hatte der Müller mit einem Handwischen abgetan und mir befohlen, den dürren Körper irgendwo hinter der Gartenmauer am Flusshang zu verscharren. „Und zu niemandem ein Wort, sonst…“. Und ich hatte geschwiegen. Es ging mich nichts an, nicht wahr?
Den Rest der Nacht verbrachte ich solchermaßen über die Geister der Vergangenheit grübelnd, und Läuse knackend auf meinem Lager aus strohgestopften fleckigen Säcken, in denen es mehr Lebensformen geben musste, als Bilder in dem Artenbuch, das ich neulich beim Schulmeister aufgeschlagen in der Guten Stube gesehen hatte. Und nicht wenige der Biester ernährten sich von meinem Blute.
Vor dem Frühstück las der Müller, wie jeden Morgen, aus der Bibel vor. 15 Mannsleute und Weibsvolk setzten sich hernach an den Holztisch, löffelten schweigend den Getreidebrei aus der Schüssel, leckten ihren Löffel sauber ab, steckten ihn zurück in das Futteral an der Küchenwand und begaben sich an ihr jeweiliges Tagwerk. Ächzend erhob auch ich mich als Letzter von der hölzernen Bank, die blankgewetzt und dunkel von unzähligen Hintern war, die sich je auf ihr gedrückt hatten. Als mir die kleine Schwedin das Vesperpaket reichte, Brot, Speck und Bier für den Tag mit den Müller-Schweinen im Wald, da zwinkerte ich ihr zu, neckte sie leise wegen der nächtlichen Aktivitäten. Das junge Ding errötete erschrocken und die kleinen Vögel der Panik flatterten in ihren Augen. Da brummte ich beruhigend und legte meinen Finger an die Lippen. Ich würde schweigen. Auch das ging mich nichts an.
Den ganzen Sommer über trieb ich die Schweine zum Fressen in den Wald. Sie waren prall und rund, wohlgenährt wie alles Vieh des Müllers. Die Tiere der Bauern ringsum hatten viel größere Flächen aus der Allmende zum Grasen zugewiesen bekommen, doch die meisten waren und blieben magere Gerippe. Man munkelte im Dorf, doch einzig der Hauwers-Marten hatte einst gewagt, den Müller zu beschuldigen, sich am Mahlgut seiner Kunden zu vergreifen. Hatte ihn beim Junker, Cordt vom Hohenufer, angezeigt. Der konnte dem schlauen August nichts nachweisen, oder wollte es nicht – das sollte ganz und gar sein Pächter regeln. Doch der Pächter, zufällig auch des Müllers Schwager, hatte das mit den verbundenen Augen der Justitia offensichtlich falsch verstanden – ich sah einst eine Büste in einer Stadt im Norden, als wir ´65 die Dänen aus dem Holsteinischen jagten – und der fette Schinken, gänzlich uneigennütziges Geschenk des Müllers, wog schwerer als jeder Zweifel.
Als dem Hauwers-Marten ganz plötzlich eine gesunde Kuh eingegangen war, eine Scheune abbrannte und er selber einen Monat lang nicht zur Christmesse erschien – war wohl böse im Dunkeln gefallen, hatte der Müller grinsend zu seinen Söhnen gesagt und die hatten zurückgegrinst und sich die geschundenen Fingerknöchel gerieben – da hatte es keine Fragen und keine Anklagen mehr gegeben.
– Ende Teil 1 – weiter zu Teil 2