Gedankengift
CN: Missbrauch, Sexuelle Darstellungen, Inzest.
NSFW.
Sie stand mit dem Rollator am Eingang des Altenheims. Ihre Enkelin drehte sich im Gehen noch einmal um und winkte ihr zu. Elvira winkte zurück und sah Sara nach, die in ihre Auto stieg und davonfuhr. Es würde eine Weile dauern, bis wieder jemand aus ihrer Familie den Weg ins Altenheim fand. Sie war nicht böse darum, sie konnte gut allein klar kommen. Elvira wendete ihre Gehhilfe und schob sie über die Flure bis zum Hinterausgang und draußen weiter in ihre Lieblingsecke ganz hinten im Garten hinter den Rosen. Sie setzte sich. Hierher kam so schnell niemand anderes und sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Wie so oft drängte sich diese eine Erinnerung hoch. Sie grinste still und bitter in sich hinein. „In meinem Alter weiß ich nicht, was ich gestern zu Mittag gegessen habe, aber die Bilder aus der Kindheit sind frisch“. Und sie waren immer da. Hatten sie durch ihr langes Leben begleitet. Sie hasste sie.
Elvira schloss die Augen und dachte an ihr Kindheits-Ich zurück, sie war damals knapp – wie alt mochte sie da gewesen sein – zehn, elf Jahre alt? Sie ging noch zur Grundschule – oder war sie schon auf die höhere Schule gewechselt? Elvira wusste es nicht mehr genau. Und auch nicht, wie lange „es“ gedauert hatte, damals. Sie war sehr wissbegierig und las alles, was ihr in die Hände fiel. Ihr Bruder war sieben Jahre älter und ging auf das Gymnasium. Wenn er nicht da war, stöberte sie in seinem Bücherschrank. Eigentlich durfte sie das nicht, aber das Geschriebene zog sie magisch an. Sie konnte lesen, bevor sie in die Schule kam. Elvira lächelte kurz, das war heutzutage immer noch so, auch wenn sie die Schrift nur noch an elektronischen Geräten lesen konnte, an denen sich die Schrift sehr groß stellen ließ.
Eines Abends hatte ihr Bruder wieder seine Freunde da. Den Peter und den Olaf. Olaf und ihr Bruder waren kurz weg gegangen, sie erinnerte sich nicht, warum. Peter kam heimlich in ihr Zimmer, in dem sie mit Bausteinen spielte. Sie fand Peter nett. Auch wenn ihr die großen Jungs schon fast wie Erwachsene vorkamen, aus ihrer kindlichen Sicht. „Was baust du denn da?“ fragte er und setzte auch ein paar Legosteine auf das unfertige Haus. Aber eigentlich wollte er etwas anderes. Sie schämte sich ein wenig, als er wiederholt fragte und drängte, ob er sie einmal zwischen den Beinen anfassen durfte. Nein, das mochte sie nicht. Es war ihr unangenehm. Hatte ihr Bruder es etwa seinen Freunden erzählt? Ihr Geheimnis? Die beiden anderen kamen zurück und Peter gesellte sich schnell dazu. Elvira schloss die Tür hinter ihm. Sie nahm ihren Plüschtiger in die Arme und setzte sich aufs Bett. Sie wartete.
Später am Abend kam ihr Bruder mit einem neuen Buch in ihr Zimmer. In den letzten Tagen hatte er ihr von den alten Römern und ihren Ausschweifungen erzählt. Gestern hatte er ein Aufklärungsbuch dabei. Ihr war ganz warm geworden bei den Abbildungen. Vor ein paar Wochen hatte er ihr ein Buch über ägyptische Pharaonen gezeigt. Er erzählte, dass diese immer ihre Schwestern geheiratet hatten, um die Dynastie zu erhalten. Und er zeigte ihr, was diese Geschwister in der Hochzeitsnacht gemacht hatten. Es war sehr feucht gewesen und das Bett hatte fürchterlich gequietscht. Nebenan schliefen die Eltern. Warum hatten sie es nicht gehört? Nicht in dieser Nacht und nie.
War sie ihren Eltern darum böse? Sie wusste es nicht. Ihre Eltern hatten sie vor „fremden Männern“ gewarnt. Sie erinnerte sich, dass sie, als sie noch sehr klein war, gezwungen worden war, die Dürrenmattverfilmung „Es geschah am hellichten Tag“ anzusehen. Schluchzend hatte sie davor gesessen, weil das schreckliche Geschehen nicht hatte sehen wollen und es doch musste. Ihre Eltern hatten es gut gemeint mit dieser brachialen Aufklärung, sie wollten sie vor so etwas bewahren. Es hatte sie nicht beschützt.
Irgendwann hörte es auf. Irgendwann kam er nicht mehr in ihr Bett. Aber es hatte den Hunger in ihr geweckt. Ein Hunger, den niemand in ihrem Alter stillen konnte. Sie wollte es wieder fühlen – diese Feuchte, dieses Prickeln. Es musste doch etwas geben, was dieses Verlangen stillen konnte. Sie führte Gegenstände ein, masturbierte, es war nicht dasselbe. Sie wollte, dass endlich ihre Brüste wuchsen, dass sie ihre Tage bekam. Sie wünschte sich so sehr, eine zu Frau sein, dass sie darüber vergaß, ein Kind zu sein.
Die alte Frau, die sie nun war, blickte in den Garten, auf die Wand mit den Kletterrosen, die so betörend dufteten. Ja, dachte Elvira. Das war das eigentlich Tragische an der Sache, dass sie einen Teil ihrer Kindheit verloren hatte. Und dass wegen dieser Sache aus der Vergangenheit ein normales Sexualleben nicht immer möglich war – zu oft hatte sie diese unerwünschten Erinnerungen gehabt, während sie mit Männern schlief oder sich selbst befriedigte, wenn kein Partner zur Verfügung stand – die Flashbacks kamen ungefragt: die Klopapierrolle auf dem Nachtschrank, zum Abwischen der klebrigen Feuchte hinterher, das Quietschen der Bettfedern, sein Atem in ihrem Nacken, das glitschige Stück Fleisch zwischen ihren Beinen, das so kitzelnde Gefühle da unten verursachte – er nahm sie von hinten, immer von hinten. Niemand hatte ihr das je wieder geben können. Und sie hatte es niemals artikulieren können. Er war ein Arsch, es gab sehr viele andere Dinge, die er getan hatte, für die sie die Schuld bekam oder nicht machen durfte, weil er das vorher verbockt hatte. Und sie hatte das Geheimnis der Pharaonen-Geschwister nie erzählt. Später hatte sie die Verbindung mit ihm abgebrochen. Aber da waren die Wunden auf der Seele schon vernarbt.
Elvira war keine Schönheit, trotzdem schien sie auf eine Art für bestimmte Männer Signale auszusenden. Sie war süchtig, suchte, das spürten sie wohl. Rückblickend war ihr klar, dass sie nichts von diesen Männern bekommen hatte. Sie hatte sich angeboten, ja, und es war auch aufregend und meist sexuell befriedigend gewesen. Aber sie hatten ihr nichts zurückgegeben. Es ging nie um sie als Person, es ging ihnen nur um den Sex und sie taten mit ihr, was minimal nötig war, damit sie bereit für die Penetration wurde. Die Kerle nahmen sich, was sie anbot und mehr. Sie nahm sich, was sie bekommen konnte – und fühlte sich nach dem Höhepunkt beschmutzt und benutzt. Irgendwann setzten die Schmerzen ein, danach. Irgendwann wollte sie keinen Sex mehr mit anderen. Keinen körperlichen Kontakt mit anderen. Ihre Welt wurde klein, sehr klein. Und es schien in Ordnung zu sein.
Sie hatte trotz allem ein halbwegs erfülltes Sexualleben gehabt, war zweimal verheiratet gewesen, hatte Kinder, Enkel. Aber immer blieb diese Suche, diese Sucht, die niemals befriedigt werden konnte, die quälende Erinnerung, die sich als Marker eingebrannt hatte. Und den bleibenden Hass auf ihren Bruder, der ihr das angetan hatte.
Epilog
Sie war seit einiger Zeit (waren es Tage, Wochen?) in einem unerwarteten instabilen Ausnahmezustand. Mental, emotional und körperlich, mit wechselnder Intensität, aber immer höher als ihr normales Level. Heute war es besonders schlimm geworden, dieses Gefühl, aus dem eigenen Körper springen zu wollen, zu fühlen, zu berühren, wo es sonst kein Anfassen geben durfte. Und plötzlich hatte es wieder einen Flashback gegeben, einen sehr heftigen diesmal. War er wirklich plötzlich gekommen, oder war er immer da, immer gegenwärtig? Lauerte im Hintergrund, quälte. Wodurch er ausgelöst wurde? Sie wusste es nicht. Aber nun reichte es ihr! Sie wollte dieses Fremde in ihr endlich loslassen, ins Licht zerren, isolieren, vergessen. Sie nahm die Tastatur aus der Tasche, die sie immer bei sich trug, entrollte sie auf dem Gartentisch, aktivierte den Holo-Schirm und begann zu schreiben:
Gedankengift (Tale of a lost Childhood)
Sie stand mit dem Rollator am Eingang des Altenheims. Ihre Enkelin drehte sich im Gehen noch einmal um und winkte ihr zu. Elvira winkte zurück und sah Sara nach, ….