Zu Den Sternen…
Juni
Dipl. Ing. Dr. Klaus Lehmann spürte die Blicke auf seinem Rücken wie eilig kriechende Ameisen, noch bevor er die argwöhnische Stimme hörte: „Heyh, Sie da, was machn se in meim Weiznfeld?“ Er liebte es gar nicht, bei seiner wichtigen Arbeit gestört zu werden, aber bei der einheimischen Landbevölkerung wusste man nie so genau, erst neulich hatte man ihn sogar mit einer Schrotflinte bedroht, und deshalb wandte er sich sehr langsam und sehr bedächtig um. Auf dem nahen Feldweg, neben seinem abgestellten Pajero, stand der Bauer. Einhundertneunzig Zentimeter Argwohn. Stiernacken, staubige Latzhosen, Gummistiefel, die Pranken um die Griffe seines Fahrrades gelegt, zugleich eine Unkrauthacke quer über dem Lenker haltend. Misstrauisch wurde er aus zusammengekniffenen Schweinsäugelein gemustert. Dann ging der Blick über die vielen Geräte, die zwischen den grünen Halmen aufgestellt waren.
Klaus wusste genau, was nun folgen würde und bitter würgte er hervor:
„Ich untersuche… Korn-Kreise.“
Das Minenspiel, das auf des Landwirts Gesicht gewitterte, zeigte zu jeder Sekunde, welche Gedanken sich hinter der gefurchten Stirn bewegten. An dem Punkt, als der Bauer grinste und zu dem Schluss gekommen war, sicher nur einen harmlosen Spinner vor sich zu haben, und den Griff um das Gartengerät lockerte, mit dem er sehr wohl auch tollwütigen Füchsen und diesen Waschbären, die neuerdings überhand nahmen, den Garaus machen konnte, schob der Wissenschaftler erklärend nach: „Ich bin Wissenschaftler“, und ging ein paar Schritte auf den Bauern zu. „Lehmann der Name, Doktor Klaus Lehmann. Sind sie der Eigner dieses Getreide-Feldes?“
Die Erwähnung seiner zertretenen Anbau-Pflanzen furchte sofort wieder die Stirn unter der speckigen Bauernkappe.
„Jo, binnich, Hein Harms, un ich mach dat gar nich leiden, wenn da wer de Halme platt trampelt. Tut das not, dass Se da inn Feld reingehn? Wasn dat fürn Krams da?“ fragte Harms und deutete mit einem arthritischen Finger seiner schwieligen Hand auf all die Geräte, die wie sortierter Schrott auf einer wilden Müllhalde im Kreis der liegenden Halme verteilt waren.
Hinter seiner altmodischen Lennon-Brille blinzelnd drehte sich der Ingenieur zu seinen Apparaten um und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal, völlig verwirrt, dass jemand nicht deren Bedeutung auf den ersten Blick zu erkennen schien.
„Nun, ähh..“ stotterte er, „das ähhh… brauche ich alles für die Untersuchungen…“, und dann erklärte er kurz und hektisch wie Rumpelstilzchen, der ums Feuer hüpft, die einzelnen Geräte, Laptop, Strahlenmesser, Nachtsichtgerät, Metalldetektor, Digitalkamera, Mini-Labor für Boden-Untersuchungen, Schieblehren, das GPS….
Bauer Harms winkte ab, davon verstand er nichts. Er hatte ja schon Probleme mit dem Mobiltelefon, das ihm die Tochter gekauft hatte, ‚falls ma wat is‘. „Man sutsche, junger Mann, wird schon stimmen, wasse mir da vertellen. Aber eigentlich brauchts da nur ’nen Knüppel. Wennich nämlich die Lausbubm erwischen tu, die mick dat Korn da hinten so verhunzt ham, dann tu ich die damit verbläun.“
Der kleine, dürre Wissenschaftler, jäh in seinen Erklärungen gestoppt, wischte seine feuchten Hände an seiner Khaki-Hose ab. Es war heiß und schwül an diesem Frühsommerabend. Hinter seiner rechten Schulter türmten sich dunkle Wolken zu Ambossen auf, in vielleicht einer halben Stunde, spätestens, würde es hier ein Gewitter geben, scharfe Aufwinde, Staubwirbel, Statische Aufladung, ideale Bedingungen für seine Forschung.
Aber was hatte dieser Landmann gerade gesagt? Lausbubenstreich? Dabei schien dieser Kornkreis endlich einmal ein authentischer zu sein. Die Halme lagen alle wie mit einem Zirkel gezogen in Uhrzeigersinn am Boden. Nicht geknickt, nur gelegt. Vom Hochsitz aus am rechten Feldrand hatte er mit dem Feldstecher nach Pfaden gesucht, die zum Doppelkreis führten, aber nicht einmal eine Traktorspur kreuzte die Anomalie. In den Halmen am Boden war ein toter Vogel verwoben gewesen. Dehydriert und blutleer wie es schien. Lehmann hatte ihn in einen Beutel gestopft und in der Kühlbox neben seinen Butterstullen deponiert. Er würde ihn im Institut untersuchen lassen.
„Warum glauben Sie an einen Lausbubenstreich? Nicht alles ist immer erklärbar…“
Harms schüttelte ungeduldig den Kopf. „Kommse ma mit“, und schon schob er das Fahrrad ein gutes Stück den Feldweg entlang, blieb an dem zugewachsenen Graben stehen, der sein Getreidefeld von einer Pferdeweide trennte und deutete anklagend mit der Hacke auf etwas in den Brenneseln unter der Weide. Von Westen rollte der erste Donner heran, als Ingenieur Lehmann sich über das Brett beugte.
Verdammt, der Bauer hatte Recht… Es waren also doch ‚Hoaxer‘ gewesen. Lehmann war erschüttert. Gedankenabwesend nickte er zurück, als Harms sich verabschiedete und eilig in die Pedalen trat, um noch einigermaßen trocken seinen Hof zu erreichen. Der Doktor zog das eine Tretbrett aus dem Gestrüpp. Aufgescheuchte Klein-Insekten, Asseln, Käfer, perlten eilig vom Holz wie Ölschlieren, … dicht daneben stak ein zweites, mit dem der Weizen plattgewalzt worden war, beide noch mit breiten Riemen verknotet.
Erste Regentropfen des Sommergewitters holten ihn in die Realität zurück, fielen auf sein Gesicht, und er wischte sie zusammen mit den Tränen fort. Er beeilte sich, zurück zu seinen teuren Geräten zu gelangen, um sie schnell und mit geübten Handgriffen vor dem stärker werdenden Regen im Pajero-Heck in Sicherheit zu bringen.
Als der Wolkenbruch einsetzte, saß er wie reglos auf dem Fahrersitz. Draußen tobte sich das Gewitter aus, kurz und heftig. Die Schlaglöcher, von denen er jedes einzelne auf dem Hinweg nur zu deutlich – wegen der kaputten Stossdämpfer – in seinen Hämorrhoiden gefühlt hatte, füllten sich schnell mit Wasser. Hinter den beschlagenen Scheiben saß zusammenesunken Doktor Lehmann, die Augen geöffnet, aber sein Blick ging nach innen. Weit zurück in der Zeit. Juni 1979. Der Sommer, als er sieben Jahre alt war. Der Sommer, in dem alles begann.
„Dein Vater ist zu den Sternen gereist.“ Hatte ihm seine Mutter tränenverhangen anvertraut und da er sie noch niemals hatte weinen sehen, hatte sich nicht getraut nachzufragen. Warum war sie denn so traurig? Zu den Sternen, man denke sich bloß, Zu den STERNEN zu reisen war doch etwas Besonderes. Waren sie denn nicht den ganzen Weg von Lüneburg bis hierher nach Südengland gefahren, um Teil etwas Außerordentlichen zu werden? Sie hatten mit anderen aus der Kommune, mit Onkel Olaf, Tante Trixi und Tante Bärbel diese Reise im alten, blauen VW-Bus über den Kanal gemacht (die stürmische Überfahrt mit der Fähre war der Höhepunkt der Reise gewesen – noch nie hatte Klaus so viele Menschen zugleich kotzen sehen), um bei dem Steinkreis von Stonehenge die Sonnenwende zu feiern. Fackelschein, Lambrusco und beschwörende Gesänge zu Gitarre und Flöte. Mutz, wie er seine Mutter nannte (sie wollte sich nie Mutter oder Mama rufen lassen, konnte sich aber auch nicht dazu durchringen, von ihrem Sohn mit dem Vornamen angeredete zu werden. Mutz lies sie gelten), hatte mit den anderen Frauen im Schein der Flammen um das Lagerfeuer getanzt, beeindruckend und mystisch und erotisch war das gewesen, und dann waren sie alle noch ein paar Tage wie die Zigeuner herumgefahren, um andere historische Orte der Druiden Südenglands zu bestaunen.
Es war eine magische Zeit. Was machte es schon, dass Mutz und sein Vater sich am Vorabend gestritten hatten – scharfe Worte wie Blitze, heiß und verletzend -, und seither nicht miteinander geredet hatten; ihr Schweigen lastete in der Luft, wie die Ruhe vor dem Sturm. Das alles war sofort vergessen, als Tante Bärbel aufgeregt mit dem inzwischen blumenbemalten, klapperigen Bully auf die Lichtung geknattert kam, auf der sie in der Nacht gezeltet hatten. Im nahen Dorf, wohin sie wegen Brot und Milch, Eiern und Zigaretten gefahren war, da hatte sie es gehört. Irgendjemand, irgend Etwas hatte in einem Getreidefeld einen perfekten Kreis hinterlassen. Unerklärbar perfekt.
Aliens waren das, hatte Onkel Olaf wichtig behauptet, und alle waren sie sofort dort hingefahren, um es mit eigenen Augen zu sehen und ihm rechtzugeben. Und am nächsten Morgen war Dada verschwunden gewesen. Einfach so. Zu den Sternen hatte Mutz gesagt. Dann war er bestimmt mit den Aliens gegangen. Es konnte nur so sein. Dort wollte er auch hin. Und die Kornkreise spielten eine wichtige Rolle dabei. Das hatte er mit seinen sieben Jahren bereits kapiert. Er musste nur noch herausfinden, welche Rolle.
Später in der Schule war er immer der Beste gewesen. Die Lehrer hatten ihn gelobt und durchweg gute Noten erteilt, die Mitschüler hatten ihn, den Streber, gelegentlich verhauen, in Schränke gesteckt oder die Brille geklaut. Freunde hatte er keine gehabt, nur eine alte, einohrige Katze leistete ihm zuhause Gesellschaft beim Studieren der vielen Fachbücher, die er sammelte wie seine Mitschüler Fußballpokale. Die Katze ging – nein, sie hinkte – eines lauen Sommer-Abends in ein Getreidefeld und danach hat er sie nie wieder gesehen, obschon er tagelang die Umgebung absuchte, und etliche „Katze Entlaufen-Zettel“ an Straßenbäume pinnte. Jedoch waren eine Woche später in einer Wiese in der Nähe seltsame Piktogramme erschienen. Hatte die Katze es geahnt? Wie hatte sie es wissen können? WAS hatte sie gewusst? Und noch verbissener sammelte der junge Mann, der einmal ein angesehener Wissenschaftler werden sollte, alle Fakten und Daten über die seltsamen Zeichen in den Getreidefeldern, um das Unerklärbare erklärbar zu machen.
Nur ein einziges Mal, hatte er eine Affäre gehabt. Ein schüchternes, pummeliges Mädchen aus dem Studentenwohnheim. Sie war kleiner als er, was bei seiner eigenen geringen Körpergröße alleine schon ein Grund war, sie als Partnerin in Erwägung zu ziehen. Die dicke Horn-Brille störte ihn nicht, war er doch selber auf eine solche Sehhilfe angewiesen, und auch nicht ihr Lispeln und die Somemrsprossen, was er beides entzückend fand. Sie studierte Astronomie im zweiten Jahr – eine Sternenforscherin – er war verliebt. Sie erzählte ihm von Einstein, Galileo und Hawkins und er zeigte ihr seine Fotosammlung der schönsten Kornkreise. Ihren ersten Kuss gaben sie sich in einem Maisfeld, in einer Vollmondnacht im Juli, sie liebten sich im August in stoppeligen, piekenden Wiesen und duftenden Kornfeldern, wo er schmerzhaft erfahren musste, dass Mann sich auch tiefer am Rücken einen derben Sonnenbrand holen kann, und im September sagte sie ihm beiläufig, sie hätte jemand anderen kennen gelernt, einen Kapitän auf einem Containerschiff. Sie brach ihr Studium ab und zog zu ihrem Seemann auf den Frachter.
Pah! Sollte sie ruhig gehen.. was war so ein Kahn gegen ein Sternenschiff.
Eines Tages würde er die Kornkreise entschlüsselt haben. Und dann würde er sie finden, die Aliens, und sie würden ihn mitnehmen dort hinauf….