Arboretum
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Janet betätigte den Türöffner und trat durch das sich öffnende Schott. Die ausgeklügelte Rotation der Station ermöglichte leichte Gravitaion – gerade genug, um sich am Boden fortzubewegen. Janet war am Ende ihrer heutigen Kontroll-Runde angelangt. Die Betreuung des Arboretums gehörte zu ihren Hauptaufgaben, neben dem Emergency-Room und der Bord-Küche.
Die Wissenschaftlerin war nun seit sieben Monaten an Bord dieser Raumstation. Auf der Krankenstation gab es nicht viel zu tun für sie, bisher hatte sie nur einige leichte Verletzungen zu behandeln gehabt. Auch der Sektor Küche war kein Zeitproblem, die Dienstpläne ließen ihr genügend Zeit und die Crewmitglieder wechselten sich dabei ab. Die zweiwöchentlichen Lieferungen von der Erdstation waren immer pünktlich. Es hatte seine Vorteile in einer Erdumlaufbahn zu sein und nicht weiter draußen im Sol-System.
Diese Raumstation, Orbiter42, eine von vielen anderen in der Erdumlaufbahn, bemannt mit einer Crew von fünf, war die Fortsetzung des „Sphäre-Projektes“, das bereits im letzten Jahrhundert begonnen hatte. Getestet wurden die besonderen Lebensbedingungen im Weltall für Pflanzen von der Erde und für extraterrestrische, die auf Planeten des Sonnensystems gefunden wurden und ihre eventuelle Verwendbarkeit.
Janet schätzte ihre Arbeit hier zwischen dem üppig wuchernden Grün im Arboretum. Der Name bedeutete eigentlich Baumgarten, doch Janet versuchte, ebenfalls ein wenig Gemüse und Kräuter anzubauen, um die Bordkost aufzuwerten. Der Name Arboretum hatte sich ganz unwissenschaftlich gängiger auszusprechen erwiesen, als die sperrige offizielle Bezeichnung: „Erweitertes orbitales Biosphären-Versuchslabor-Gewächshaus“.
Von ihren Kollegen verirrte sich selten jemand hierher und so genoss sie die Zeit fern von den anderen – Privatsphäre ist kostbar an Bord kleiner Raumkörper.
Beinahe wäre Janet über den kleinen Reinigungsroboter gestolpert und ärgerlich trat sie nach ihm. Diese Bots waren einfach immer im Weg, dachte sie. Die Gefahr erkennend, huschte der Bot unter den nächsten Arbeitstisch, denn anscheinend hatte die Herrin des Arboretums heute keinen guten Tag. Der Bot an sich war langsam, aber sein asimovsches Überlebensprogramm schaltete beachtlich schnell.
Auf der Station war nun Nachmittag programmiert. Die künstlichen Sonnen schienen hell und warm. Angenehme Hintergrundmusik mischte sich mit dem Geräusch von fließendem Wasser. Janet hatte herausgefunden, dass „ihre“ Pflanzen die Musikberieselung mochten. Einigen der Gewächse hatte sie sogar Namen gegeben und redete mit ihnen, als wären es gute Freunde.
Nummer „Thx-1138-21alpha5“ war einer ihrer besten „Freunde“ und ihr Kosename dafür war „alpha5“. Den Samen hatten Forschende auf einen der Asteroiden in den Ringen des Saturn gefunden und er war mittlerweile zu einem beachtlichen Bush heran gereift. Seine bläulich schimmernden Blätter schienen sehr sensitiv auf Berührungen zu reagieren und Janet streifte sie des öfteren, jedes mal aufs neue erstaunt, ob der Beweglichkeit der sich zitternd öffnenden und schließenden Blätter.
„Oh, Alpha5“, seufzte sie, vorsichtig das Gewächs mit beiden Armen umfangend, „Bill ist so ein Lauch!“ Bill war der Funker an Bord, und das Wort Lauch war ihr schlimmstes Schimpfwort. „Wie lange sind wir nun schon hier im Orbit? Und immer noch meckert er über das Bordessen. Selbst, wenn er es selber gekocht hat. Was ist nur los mit ihm? Das hier ist doch kein Restaurant und ich bin keine Sterneköchin! Frische Lebensmittel kann er in wenigen Wochen haben, wenn wir zurück auf der Erdoberfläche sind. Bis dahin wird er Trockenrationen essen müssen, wie wir anderen auch!“
Aber was war das?! Sie vergaß augenblicklich ihren Unmut. Ihr Blick fiel auf ein ungewöhnlich aussehendes Blatt alphas. Nein, ein Blatt war das wohl eher nicht… Ja, bei genauerem Hinsehen war sie sich sicher: dies war eine Knospe! Die Botanikerin griff sich die bereitliegende Kamera und machte einige Aufnahmen zur Dokumentation.
Irgendwie schien alpha5 die Helligkeit der Blitzlichter zu mögen, öffnete weit seine Zweige und Janet hatte freies Schussfeld auf den Spross. War die Knospe innerhalb der letzten Minuten gewachsen? Hatte das grelle Licht einen solche Wirkung auf Alphas Wachstum? Janet war sich nicht sicher und notierte daher die Größenmaße. Um bei diesem schnellen Wachstum nicht die Vollblüte zu verpassen, beschloss die Biologin, die Nacht hier im Arboretum zu verbringen. Unmöglich vorherzusagen, wann bei einer extraterrestrischen Spezies dieses Stadium erreicht sein würde.
Schon Stunden später ereignete sich der große Moment. Voller Begeisterung aktivierte Janet die Schiffs-Com und rief ihre Kollegen. Leider hatte sie nicht die späte Stunde bedacht und erntete einige unfreundliche Antworten. Einzig Bill, der Wachdienst hatte, kam für ein paar Minuten vorbei. Mangels Verständnis für alles Nicht-technische, warf er lediglich einen Blick auf das blühende Gewächs und baldmöglichst verließ er – kopfschüttelnd über die in Begeisterung schwelgende Janet – den Raum in Richtung Funkbude.
Die Blüte war gigantisch, weiß mit feinen roten Streifen. Aus ihrer Mitte strömte ein undefinierbarer süßer Duft. Janet wurde es ein wenig schwindelig, als sie sich der Blüte näherte, um an ihr zu schnuppern. Sie führte es jedoch auf ihren Schlafmangel zurück.
Vorsichtig strich sie mit einem Finger über die glitzernde Innenfläche der Blüte. Eine silbrig schimmernde Substanz blieb auf ihrer Haut haften und verursachte ein leichtes Prickeln. „Das sollte ich dringend untersuchen“, dachte die Botanikerin, hatte aber schon im nächsten Moment ihre Absicht vergessen.
„Janet…? Janet, bitte melden Sie sich!
Janet!
Wo stecken Sie, Janet?“
Langsam nur drang die Stimme in ihr Bewusstsein. Ein Blick auf ihr Chronometer verriet ihr, sie hatte verschlafen, es war fast Mittag. Aber warum war sie hier im Arboretum und zu dieser Zeit? Immer noch plärrte der Lautsprecher und hinderte sie am Nachdenken. Steif und müde rappelte sie sich aus dem Stuhl hoch, auf dem sie anscheinend die Nacht verbracht hatte, den Kopf auf der Schreibtischplatte, und drückte die Com-Taste: „Ja doch! Ich bin gleich oben. Alles in Ordnung!“
Manisha, die andere Frau an Bord, zuständige Computerspezialistin und Technikerin, stellte ihr energisches Rufen ein, jedoch nicht ohne sich über das verpasste Frühstück zu beschweren. War das heute Janets Aufgabe? Sie konnte sich nicht erinnern. Schon halb zur Tür hinaus, bemerkte sie eine zweite Blüte neben der ersten, die schon fast wieder verwelkt war und nun eine blaue Farbe angenommen hatte. Beiden entströmte dieser merkwürdig betörende Duft, der sich inzwischen in der Raumstation verbreitet hatte. Niemand nahm ihn bewusst wahr.
Janet fühlte sich nur wenig besser, nachdem sie gegessen hatte. Manisha leistete ihr Gesellschaft am Tisch. Sie hatten meistens gemeinsame Pausen. Und während der gesamten Mahlzeit sah sich Janet den Fragen der Kollegin ausgesetzt, was wohl im Arboretum geschehen sein mochte. Entnervt schickte Janet sie letztendlich ins Arboretum, um ebenfalls die Blüten zu bewundern und sie selber suchte die Krankenstation auf. Aufgrund ihrer anhaltenden Schwäche fürchtete sie eine kommende Erkrankung. Sie konnte bei ihrer Untersuchung nichts Besorgnis erregendes feststellen, außer einem erschreckenden Eisenmangel in ihrem Blut.
Ausgewachsen
Wochen später war ein Viertel des Arboretums von alpha5 überwuchert. Blüten in verschiedenen Wachstumsstadien und Farbschattierungen von weiß-rot über blau zierten das Gewächs. Süß und schwer lag ihr Duft in allen Räumen, vom Luftregenerations-System in der gesamten Station verteilt. Alle Mitglieder der Crew hatten das blühende Gewächs inzwischen mit eigenen Augen gesehen. Sie alle beklagten eine gewisse körperliche Schwäche und ungewöhnliche Müdigkeit. Dazu kam eine Art Verwirrtheit bei ihnen allen, die das effektive Arbeiten an Bord erschwerte. Janets Analysen ergaben bei jedem Einzelnen anämisches Blut. Die verabreichten Eisenpräparate schienen nicht anzuschlagen.
Enbiy und Wong, beide begnadete Wissenschaftler und Techniker (jeder an Bord hatte mindestens zwei Berufe und Aufgabengebiete) hatten die nun grelle Innenbeleuchtung der Station permanent heraufgesetzt, außerdem gab es keine Nachtabsenkungen mehr. Desgleichen hatten sie die Klimabedingungen manipuliert, es war nun deutlich wärmer überall an Bord, mit erhöhter Luftfeuchtigkeit. Trotzdem verbrachte die ganze Mannschaft neuerdings ungewöhnlich viel Zeit im Arboretum, war eigentlich die gesamte Freizeit dort und ein Großteil des Dienstes. Aber irgendwie wunderte das keinen von ihnen.
Und niemand brachte die anhaltende Blutarmut mit alpha5 in Verbindung.
„Diese wunderhübsche Blume sollte alle Räume im Schiff verschönern!“ dachte Janet. Es waren nicht ihre eigenen Gedanken, aber das war ihr nicht bewusst. Vorsichtig nahm sie einige Ableger, setzte sie in Schalen mit Nährflüssigkeit und verteilte diese in der gesamten Station. Die meisten davon jedoch, Janet wusste selber nicht warum, auf der Brücke, beim Zentralcomputer und im Maschinenraum. Es dauerte nicht lange und die Pflanzen wurzelten in den Computerterminals. Auch das schien keinen von der Crew sonderlich zu stören. Tage später hatten sich alle separaten Teile alphas zu einem gigantischen pflanzlichen Organismus verbunden. Spätestens von diesem Moment an hatte die Crew von Orbiter42 die Kontrolle über die Station verloren, diese hatte die Pflanze vollständig übernommen.
Fünf grünhäutige Individuen trafen sich an der Shuttle Rampe. Für heute wurde der Nachschub-Transport erwartet, hauptsächlich Lebensmittel, vor allem aber hatten sie Proteine geordert. Sie waren hungrig. Sie brauchten dringend Fleisch und alpha5 brauchte Eisen. Sie fütterten das Gewächs mit ihrem Blut, aber das war ihnen nicht bewusst, weil sie den hypnotisierenden Duft der Blüten einatmeten. Das Eisen aus den Blutkörperchen befähigte alpha5 mikroskopische Zellteile freizusetzen, die den Stationscomputer manipulierten. Andere mutierte Zellen waren für die körperlichen Veränderungen der Besatzungsmitglieder verantwortlich. Nicht nur die Hautfarbe hatte sich geändert, auch ihre gesamte DNA. Die fünf Menschen waren inzwischen zu Wesen mit pflanzlichen Eigenschaften und Aussehen geworden, eine Art Mensch-Pflanze-Hybrid – einzig am Leben, um der Mutterpflanze Eisen zu beschaffen.
Aufgeflogen
Der Transporter dockte pünktlich an. Für Jim, den Piloten des Shuttle reine Routine. Er beendete das Manöver mit dem Herunterfahren der Maschinen. Dann griff er sich den Beutel mit den persönlichen Briefen und Päckchen für die Mannschaft dieses Orbiters. Sicherlich wurde die Post schon sehnlichst erwartet. Die Post war immer das Wichtigste für die Crew, das zweite war ein Willkommens-Trunk für ihn und danach würde er ihnen beim Entpacken der Ladung helfen und am morgigen Tag die nächste Station ansteuern. Voller Vorfreude öffnete er die Shuttletür zum Hangar. Doch das Grinsen gefror ihm im Gesicht angesichts dieser fremden grünen Gestalten, die sich mit leisem Rascheln auf ihn zu bewegten. „Außerirdische!“ war sein entsetzter Gedanke und der Postsack glitt aus seinen Händen. Panikartig wollte er die Tür wieder schließen und verriegeln – doch zu spät – etliche grüne Tentakel schoben sich in den Türspalt! In Panik wich er zurück. Im Umdrehen stolperte er über den Postsack, fiel und schlug sich irgendwo den Kopf an. Dunkelheit.
Als Jim sein Bewusstsein wiedererlangte, waren die Fremden im Inneren der Station verschwunden, und ebenso seine Ladung, die Lieferungen für drei weitere Orbiter. Ungehindert konnte er nun das Shuttle Schott schließen. Wie in einem Alptraum erlebte er die folgenden Stunden. Diese Art Träume, in denen man flieht und doch nur zäh und zeitlupenhaft von der Stelle kommt. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis endlich die Maschinen gestartet waren. Nur fort von diesem Schrecken, nur fort… Endlich hatte Jim sein Schiff weg von der Station manövriert und startete mit höchster Geschwindigkeit zurück zur Erde. Als nächstes informierte er seine Auftraggeber auf der Erde und funkte: „Fremde Eindringlinge auf Orbiter42!“ Etwas in seiner Stimme ließ die Zuständigen seines Konzerns umgehend handeln und die Streitkräfte alarmieren.
Drei Tage später erreichte eine Flotte von Landungstruppen die Station. Die Befehle der Soldaten waren eindeutig:
Finden und Retten der Besatzung!
Finden und Vernichten der Eindringlinge!
Als der erste Trupp der Soldaten den Hangar stürmte, bewegten sich die Außerirdischen wortlos auf sie zu, erschreckende Figuren, im Aussehen mehr Gemüse ähnelnd, als menschlicher Form oder auch nur annähernd Vergleichbarem. Die Uniformierten fühlten sich bedroht und als der erste Schuss fiel, abgegeben in aufkeimender Panik von einem voreiligen Schützen, eröffneten alle das Energiefeuer auf diese grünen „Dinger“. Die Soldaten hatten somit unwissentlich die Überreste der regulären Besatzung getötet. Danach durchforschten sie alle Räume der Station nach der Crew, konnten aber seltsamerweise keinen von der Besatzung finden.
Es war keine leichte Aufgabe, hinter jedem Winkel konnte ein weiteres Alien lauern. Aus den Augenwinkeln waren Bewegungen im üppigen Pflanzengrün auszumachen. Oder bewegte sich etwa die Pflanze selber? Einige feuerten dann mit ihren Waffen in das Gewächs, und sie hätten schwören können, die Büsche dabei erzittern zu sehen. Aber wer hätte ihnen das geglaubt, dass eine Pflanze sich bewegt – oder gar Furcht empfindet? Am Ende fanden sie keinen weiteren Außerirdischen – aber auch niemanden von der Crew. Es blieb ein Rätsel. Keiner der Einsatzkräfte fragte sich, woher die Aliens wohl kamen, oder wohin die Crew verschwunden war. Sie waren Soldaten, sie gehorchten Befehlen, sie stellten keine Fragen.
Das Ende?
Sergeant Ron Miller war auf dem Weg zurück zu seinem Truppentransporter. Er hatte seinen Job erledigt, die Durchsuchung und Verminung der Stationsräume.
Orbiter42 war für unbewohnbar erklärt worden und sollte gesprengt werden.
Ein letzter Blick auf die wuchernden Grünpflanzen mit ihren überwältigend schönen Blüten. Die Leute auf diesem Orbiter hatten wahrlich eine Vorliebe für Grünzeug gehabt, dachte er. Er freute sich heimzukommen zu seiner Frau. Sicherlich würde sie sich über ein Souvenir freuen und ganz bestimmt über eine dieser wunderschön duftenden Blütenpflanzen. Sie würden sich bestimmt gut in ihrem Garten machen. Eigentlich war es verboten und er wusste es sehr genau, er war ein guter Soldat! Und doch löste er wie in Trance vorsichtig einen der Ableger und verstaute ihn heimlich in seinem Rucksack. Es war Platz genug, jetzt da er allen Sprengstoff entpackt hatte.
Eine Stunde später war er mit seinen Kameraden auf dem Heimweg. Auf seinem Transporter, weit genug weg von der aufgelassenen Station und der Detonation derselben, konnten sie den Lichtblitz beobachten. Wie erwartet, war er erst eine Minute nach der Sprengung zu sehen, dann war es vorbei. Die Reste von Orbiter42 trieben langsam der Sonne entgegen.
„Gute Arbeit, Sergeant!“ lobte ihn sein Kommandant. „Das war es! Schade nur für die Crew.“
„Jass, Sir!“ stimmte ihm Sergeant Miller zu und hoffte, dass niemand den süßlichen Duft bemerken würde, der seinem Rucksack entströmte …
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Geschrieben Juli 2002, im April 2020 überarbeitet.
Quelle der Hör-Datei: eigene Sprachaufnahme, technisch überarbeitet von karlabyrinth.