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Rattarium  

SheMera

Habt ihr den Roman gelesen? Ich fände es prima, wenn ihr mir ein paar Gedanken dazu schreibt, mit welchen Empfindungen ihr SheMera gelesen habt. Was hat euch gefallen, was mochtet ihr nicht. Hat der Plot eure Erwartungen erfüllt? Schreibt es einfach bei Twitter unter dem Hashtag #SheMera in die Kommentare.
Hinweise zu #sheMera lese und beantworte ich gerne auf Twitter

Audio – Hörbuch

(Es ist noch keine Audio-Datei vorhanden, folgt nach Lektorat, falls gewünscht.)

Der Roman SheMera als PDF-Datei zum Herunterladen:

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(Dateigröße: [downloadsize(SheMeRa.pdf)] – zuletzt aktualisiert am [downloadupdated(SheMeRa.pdf, d-m-Y)].)

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SheMera e-Book

EPub: Und als eBook ist es auch vorhanden, aus der HTML-Datei heraus mit Calibre erzeugt:
SheMera ePub (zuletzt aktualisiert am [downloadupdated(shemera-2020-10-14.epub, d-m-Y)].)
Jetzt auch mit richtigem Inhaltsverzeichnis.

muss ich neu machen, ist noch die alte Version

Historie

Romanbeginn: 15. August 2020, erstes Fertig am 7. September.
Update 12. September 2020: Trainee heißt nun Aspiranz, Peers sind nun Giswestars. Beide Begriffe wurden dem Glossar hinzugefügt.
Update 17. Sept.: Leuchtschwämme, Logikloch bearbeitet.
Update: 14. 10.: Fehlerkorrekturen, Epilog eingebaut. (neue PDF und ePub erzeugt.)
Update 29 Oktober 2020: umfassend überarbeitet, zahlreiche Fehlerkorrekturen und Ergänzungen. Neue PDF-Datei.
30. Oktober: Widmung und Danksagung hinzugefügt.
31. Oktober. Finales Korrektur lesen – fertig. neue PDF!
16. November. Neue zusätzliche PDF, gesetzt mit SPBuchsatz.

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CN, Content Notes

Einige Begriffe können für einige Menschen reizauslösend sein, oder zumindest unangenehm. In den Inhaltsangaben habe ich gelistet, was in den einzelnen Kapiteln vorkommt. Die Liste ist vermutlich noch nicht vollständig:
CN Angaben zu Inhalten, eventuell Trigger-Warnung nach Kapiteln aufgeführt.

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Kapitelübersicht

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Widmung

Für alle unter dem Regenbogen, die nicht gesehen werden.

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Klappentext

Handlung

Was passiert in dieser Geschichte und worum es geht:
Mera Orfe wächst frei und behütet auf einem Einödhof einer Fantasy-Welt auf. Meras Geschlecht ist nicht binär, sie akzeptiert für sich kein Label, sie ist Mera.
Im Tempel der Mondgöttin Dom findet sie ihre Bestimmung: Sie möchte die Welt verändern.
Hilfe bekommt sie dafür von einer telepathischen Flugratte, die eigentlich ein nicht-binäres Wesen aus einer anderen Welt ist, einem Drachen namens Linda, ihren Feydahn (Freunden, siehe Glossar), die ebenfalls Großes vorhaben, und einer einäugigen Ordensfrau.

Wovon handelt dieser Roman?

Es kommen pupsende Drachen darin vor.
Ein Mädchen (?) namens Mera, das eine ganze Welt verändern wird.
Wesen, die nicht binär sind, viele queere Charaktere.
Hatte ich die Drachen erwähnt?
Akzeptierte Personen, die Behinderungen haben.
Die Welt Arsadun mit ihren zwei Monden, die den Menschen die Idee eingab, den Kult der Mondgöttin Dom entstehen zu lassen.
Und außer den Bohrwürmern und Blut leckenden Keulern leben fast alle Wesen, auch die Drachen, vegetarisch.
Oder halt, Dorg Biggi lutscht auch gerne Maden und Bemeisen.

Über den Namen SheMera

Aus einer kuriosen Unterhaltung heraus entstand die absurde Idee, in einer kurzen (!) Story einem Mädchen (afab – assigned female at birth) im Laufe ihres Lebens einen Penis wachsen zu lassen. Mit der Aufforderung: Mach! begann ich das hier. Ist dann doch etwas länger geworden (20 Kapitel).
Mein Hirn plottete zum Arbeitstitel ‚fiktives Mixwesen‘ und machte daraus Chimäre. Ich hörte ein ‚She‘ heraus, ein ‚Me‘, sah ein ‚Him‘ und fertig war SheMera.

Infos zur Namensfindung

Chimäre ist 1. mythologisches Mischwesen (griechisch),
und biologisch ein Organismus aus diversen Zellen.
2. ein hübscher Hai (KnorpelFish)
3. eine MetalBand (Chimaira)
Chi = Lebensenergie (chinesisch)
Chi = 22. Buchstabe (X) des griechischen Alphabets, für Neutrum.
MeraLuna ist ein MusikFestival, außerdem steckt das Wort Luna drin (was zwar aus #SheMera nicht ersichtlich ist, mich jedoch daran erinnert, und wohl ursächlich für die Plotwende mit der Mondgöttin war).
Auch ein „Me“ ist drin, als Bezug zu mir.
Mera. Name des Haupt-Charakters. M. Orfe, synonym für morphen (so der Plan).
Pans Pronomen „em“ ist ein Anagramm zu „me“.
Ra, abgeleitet vom ägyptischen SonnenGott.
Das A altsprachlich für Wasser, es gibt mehrere Flüsse, die den Namen Mera haben.

Für wen ist der Roman geeignet

Die Geschichte soll unterhaltsam sein, für alle, die gerne Queernes-Themen lesen, High Fantasy-Welten lieben und Drachen. Ohne Angst, etwas überaus Schlimmes würde passieren.
Ich mag keine Kriminalromane, Horror oder Splatter lesen, deshalb schreibe ich auch nicht darüber. Es kommt also weder Mord noch Totschlag vor, weder Ausgrenzung noch Schadenfreude. Nichtsdestotrotz sorgt eine gewisse Menge an Humor für Lesespaß, Spannung ergibt sich aus der linearen Handlung. Und ich mag Texte, in denen sich Personen mögen, vielleicht sogar näher kommen, platonisch oder körperlich. In diesem Roman habe ich mich zurückhaltend auf erotische Andeutungen beschränkt.
Eastereggs (OsterEier, versteckte Hinweise): wer sich bereits damit auseinandergesetzt hat, wird die – allerdings sehr – subtilen Hinweise als Praktiken aus dem BDSM (Bondage, Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Masochism)-Bereich erkennen, alle anderen lesen einfach nur normalen Text, keine Angst, es ist nicht so sehr offensichtlich.

Vorwort

Erster Versuch meinerseits eine komplette Welt zu erschaffen.
In dieser Geschichte wird möglichst geschlechtssensible Sprache verwendet.
Was ich schreibe, soll Menschen unterhalten. Möglicherweise schreibe ich nicht sonderlich gut, da gibt es eine Menge besser Schreibende, jedoch habe ich Freude am Texten und beim Texten, denn die Handlung entwickelt sich auch für mich meist sehr unvorhergesehen. Erdachte Figuren beginnen ein Eigenleben, dem ich staunend zusehe. Ich mag das sehr, wenn ich mich in meine Charaktere verliebe, weil sie plötzlich eigenständige Persönlichkeiten entwickeln.

Da es ein Cross-over aus Fantasy, Sciencefiction und Elementen der Queertastic ist, können Disharmonien nicht ausbleiben, dessen bin ich mir wohl bewusst. Vielleicht möchte ich auch ein wenig aufklären über Themen, die sonst nicht im Fokus trivialer Literatur stehen (wobei ich vieles nicht aus own-voice-Perspektive schreiben kann, das macht es so schwierig, den Text sinnvoll sensibel zu gestalten). Und doch ist in dieser Fantasy-Welt mehr own-voice enthalten, als in meinen anderen Texten.
Ich hoffe sehr, meine Lesenden können das für sich aus dem Roman nehmen, was am besten für sie passt – im Sinne von: was ihnen gefällt.
Falls nicht: bin ich jederzeit offen für Verbesserungsvorschläge (und ändere auch später noch, wenn sich etwas als problematisch herausstellen sollte).

Noch ein Hinweis: Dieser Weltenbau erforderte etliche Wortneuschöpfungen. Vieles klingt so ähnlich wie in unserer Welt. Manches ist sicherlich auf den ersten Blick unverständlich. Daher habe ich alle Begriffe in einem extra Glossar zusammengefasst.

Der Anfang (Prolog)

Keuchend eilte die alte Hevianna den finsteren Waldweg entlang. Nur zögerlich fraß der Lichtschein ihrer Laterne spärliche runde Stücke aus der Dunkelheit, die sich mit jedem ihrer hastigen Schritte erneut hinter ihr schloss, nach den Spitzen ihrer Holzschuhe schnappte. Die Hevianna wagte kaum die Blicke vom Pfad vor ihr zu nehmen, der Wald um sie herum schien Augen zu haben. Es war kein Tier zu hören, nur das Rasseln ihrer Lunge und dumpfe Geräusch ihrer Füße. Die Finsternis hielt den Atem an, lauerte.

Hier muss es doch irgendwo sein. Sie sah sich forschend um, nun doch kurz inne haltend, suchte erfolglos nach der Abzweigung in dieser Schwärze. Hoffte, diese nicht schon verpasst zu haben. Wenn wenigstens einer der beiden Monde scheinen würde, dachte sie. Und dann hörte sie die Gebärende schreien. Die gequält klingenden Laute wiesen ihr den Weg. Ein paar Meter weiter öffnete sich der Waldweg an der Seite für einen breiten Pfad, der nach wenigen hundert Metern auf einer Lichtung endete.

Da war endlich die Holzhütte, von der sie wusste, dass sie dort stand, weil sie den Hof zuvor schon bei Tag besucht hatte. Es warfen nur zwei Fenster einen schwachen Schimmer in die Nacht. Als wären dies die Augen eines riesigen stummen Tieres, das sie zu beobachten schien. Etwas grollte knurrend. Der Hevianna schauderte es kalt den schweißnassen Rücken hinunter. Das Tier öffnete sein goldenes Maul und spuckte einen Menschen aus. Brolan Orfe trat mit einer Laterne in der Hand aus der offenen Tür und scholt das angekettete Wesen, das an der Hausecke angebunden war. Das Grollen erstarb in einem Winseln, als das Wesen zurück in seinen Unterstand kroch. Der Bauer hob sein Licht und entdeckte in seinem Radius die zaudernde Hevianna.
„Endlich!“, rief Brolan. „Hanne liegt schon seit Stunden in den Wehen.“

Die Alte huschte am Bauern vorbei in die Hütte und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Das Licht des neuen Tages beschien die Lichtung. Aus der Hütte war der erste Schrei eines neu geborenen Lebens zu hören. Brolan räumte benutzte Tücher und Schüsseln beiseite, um für die Teebecher und die Schale mit Getreidebrei Platz zu schaffen, den er in den letzten Nachtstunden gekocht hatte. Er ließ beinahe den Eimer fallen, den er eben zur Tür hinaus bringen wollte, als er diesen ersten Schrei hörte. Die Hevianna drückte ihm ein eingewickeltes Bündel Mensch in die Arme und kümmerte sich um Hanne.
So winzige Händchen dachte Brolan, als er das Neugeborene betrachtete. Und schon nahm ihm die Alte das Baby wieder ab, reinigte es und wickelte es in ein sauberes Tuch. Hanne streckte ihre Arme aus und schloss sie um den kleinen Körper. Fasziniert blickte Brolan, der sich zu Hanne aufs Bett gesetzt hatte, auf ihr Gesicht, das sowohl tiefste Erschöpfung als auch unbeschreibliche Freude zeigte. Und nun kam noch ein neugierig-forschender Blick hinzu, als sie ihr Neugeborenes betrachtete, um sich jede Einzelheit daran einzuprägen.

„Was ist es?“, fragte Brolan, ohne sich nach der Heilkundigen umzusehen. Als keine Antwort kam, drehte er sich nach ihr um, und auch Hanne schaute auf.
„Es ist ein Mädchen“, war endlich die Auskunft. Hanne und er waren nur kurz wegen der Redepause irritiert. Zu sehr faszinierte sie das Kind, dieses Wunder, das sie gemeinsam gemacht hatten. „Meh“, machte das Kleine, verzog das Gesichtchen, holte Luft und begann unwillig nach Nahrung zu schreien. „Ra Ra Ra“. Bis das Kind an Hannes Brust gelegt wurde und ruhig wurde, weil Schreien und Schlucken nicht zu vereinbaren waren. Trinken und Atmen funktionierte jedoch.

Der erste Laut, den ein Kind von sich gab, war der Name, den es selbst gewählt hat. So wollte es die Tradition. Die Eltern sahen sich an „Me?“, fragte Hanne und Brolan ergänzte: „ra? Es wird Mera heißen.“ Hanne stimmte zu.
Hanne lächelte auf das trinkende Kind hinab: „Hallo Mera Orfe“, flüsterte sie zärtlich.

Die Hevianna nickte. Es war ein guter Name. Sie runzelte leicht die Stirn. Für ein Mädchen.

Ein Dutzend

Mera erwachte vom Klappern der Teller, die ihre Mutter unten in der Küche auf den Tisch packte. Das Haus erzählte ihr, was in ihm vorging. Die Dielen knarzten, die Haustür schleifte über den Lehmboden. Mera wusste, dass ihre Mutter nun zum Hahntenstall hinüber ging, um die Eier zu ernten, die das Federvieh in der Nacht gelegt haben mochte. Hoffentlich gab es nachher keine gebratenen Augen-Eier. Die mochte Mera nicht. Sie lauschte, ob sie etwas von ihrem Vater hörte, der um diese Zeit sicher schon im Stall zugange war. Die beiden Rinnos, ihre wertvollen Milchtiere, die Zigots und anderen Tiere wollten versorgt sein. Warum war sie von Hanne nicht geweckt worden? Eigentlich war es Meras Aufgabe, das Kleinvieh zu versorgen. Ausnahmen von ihren Aufgaben gab es nur, wenn sie krank war – oder Geburtstag hatte. Plötzlich war Mera hellwach.
Heute war ihr Geburtstag!
Wie konnte sie das nur vergessen haben. Dabei freute sie sich seit Semanen darauf, denn zwei ihrer Mitlernenden würden zum ersten Mal bei ihr übernachten.

Sie schlüpfte aus dem Bett und zog sich an. Ein blau kariertes Holzfällerhemd und die Latzhose lagen bereit. Aber zuerst die Socken, und wie immer achtete Mera sehr darauf, dass diese verschiedene Farben hatten. Sie kicherte. Hanne würde, auch wie immer, deswegen mit ihr zanken. Mera schlüpfte die Stiege hinunter.
Auf dem Küchenbord stand eine Tuhrte. Es war Meras Geburtstagskuchen, denn ihre Mutter hatte eine 12 aus Buchstabenkeksen darauf gelegt. Das Gebäck duftete wundervoll. Am Nachmittag würden Yoralou und Pietje kommen. Bis dahin blieb die Tuhrte besser unangerührt. Auch wenn Mera zu gerne einen Finger hineingesteckt hätte, um den Kuchen zu probieren. Aber sie war nun 12 Sonnenkreise alt. Fast erwachsen. Erwachsene taten so etwas Kindisches nicht mehr.

Brolan kam zur Tür herein, dicht gefolgt von ihrer Mutter, die einen mit einem Dutzend Eiern und Knofilauch gefüllten Korb abstellte. Beide umarmten sie.
„Hast du dir überlegt, mit welchem Namen du ab heute gerufen werden möchtest?“, fragte Brolan. Er und Hanne blickten Mera fragend an.
Auf diese Frage gab es für Mera nur eine Antwort: „Ich will weiterhin Mera heißen.“ Sie würden sie im nächsten Sonnenkreis wieder fragen. In Dazel war es so üblich. Mera hatte in der Lernhalle gelernt, dass dies eine Besonderheit ihres Landes war, dass sich die Menschen ab einem gewissen Alter ihre Namen selbst wählen konnten. Yoralou, ihre Freundin, hatte bis zu ihrem Geburtstag vor ein paar Semanen noch Nini geheißen und sich umgehend umbenannt. Pietje war fast einen Sonnenkreis älter, und auch er hatte wie Mera seinen Namen behalten wollen.

Brolan stellte sich an den Herd und verarbeitete die Eier zu Quirl-Ei. Dick mit Knofilauch bestreut, auf einer Botterstulle angerichtet, stellte er ihr den Teller hin. Mera bedankte sich artig, auch wenn sie Quirleier genauso wenig mochte, wie Augeneier. Als ihr Vater sich umdrehte, schob Mera unauffällig die Hälfte ihrer Portion auf den Teller ihrer Mutter. Hanne nickte verstehend ihr Okay.

~

Nach dem Frühstück machte Mera das Dorg von der Kette los, Biggi, so hieß das flauschige Drachentier, das über den Hof wachte, tollte in großen Sprüngen um sie herum. „Komm, Biggi, wer zuerst an der Erlke am Fluss ist“, rief Mera und rannte los. Biggi sauste vor, erreichte den Baum lange vor Mera, rannte zurück und war die Strecke dreimal gelaufen, als auch Mera endlich am riesigen Baum am Ufer des kleinen Flusses Fosser ankam. Mera klaubte am Ufer eine Handvoll Kiesel auf, steckte diese in eine der weiten Taschen ihrer Arbeitshose und kletterte an der Erlke empor. Sie schob sich auf einen dicken Ast, der weit über das Fließgewässer ragte. Sie wusste, wie weit sie klettern durfte, ohne in Gefahr zu geraten. Es war ihr erst ein einziges Mal passiert, dass sie sich damit verschätzt hatte und ein Ast unter ihren Füßen gebrochen war. Biggi jammerte unterdrückt und hüpfte aufgeregt zwischen Stamm und Ufer umher.

Mera rief: „Achtung! Mach Sitz!“ Biggi gehorchte, wenn auch am ganzen Leib vor Erwartung zitternd.
„Bleib!“, fügte Mera freundlich hinzu. Sie zog einen der Kiesel aus der Tasche und warf ihn in die Strömung weit vor ihr. Biggi fiepte, blieb aber sitzen. Mera erlöste sie mit einem „Frei!“ und Biggi katapultierte sich aus dem Sitzen mit einem gewaltigen Sprung in den Fluss, dem Kiesel hinterher. Mera warf nach und nach ihre Steine ins Wasser, freute sich an den eleganten Bewegungen des Dorgs, der mit den Schwimmhäuten zwischen den Zehen eigentlich mehr ein Wasserwesen zu sein schien. Als Biggi genug hatte und sich japsend am Uferstreifen niederließ, kam auch Mera wieder von ihrem Baum herunter. Natürlich hatte sie vorher noch die Glibblinge beobachtet, die im Flachwasser vor dem Dorg flüchteten, dann aber wieder hervorkamen und auf der schnellen Strömung ritten, auf fliegende Beuteinsekten lauernd.

Biggi erhob sich, als Mera neben ihr angekommen war und schüttelte sich das Wasser aus dem zotteligen Fell. Als die nun auch nasse Mera deswegen mit ihr schimpfte, wollte das Tier seine mit Schuppen besetzten Pfoten beschwichtigend auf ihre Schultern legen und richtete den langen echsenartigen Körper auf. „Wage es nicht!“, drohte Mera. Folgsam glitt Biggi wieder zu Boden – nicht, ohne ihre lange, dünne Zunge, mit der sie sonst Riesen-Bemeisen aus hohlen Bäumen schlürfte, einmal über Meras Kinn gleiten zu lassen. Wenn das Dorg nicht so nass gewesen wäre, hätte ihn Mera nun doch umarmt. Aber es war ohnehin Zeit, zurück zum Hof zu laufen, den Dorg wieder an die Kette zu legen und zur Schulgruppe in die Lernhalle zu gehen. Aus den hohen Zweigen der Erlke heraus folgten ihnen Blicke und ein dort verstecktes Wesen atmete erleichtert auf.

~

Yoralou und Pietje hatten ihre Übernachtungstaschen gleich zur Lernhalle mitgenommen. Nach den Lernstunden konnten die drei somit gemeinsam zum Orfe-Hof gehen. Yoralou hatte einen Ballen mitgebracht, den sie spielerisch mit den Füßen einander zu kickten. Sie hatte den Ballen aus einem Haufen Filzwolle selbst gefertigt, den sie fest mit einem Strick kunstvoll umwickelt hatte. Am Hof würden sie damit in einen aufgehängten Korb werfen, das Spiel mit einem Ballen konnte sehr variieren. Mera machten alle Arten Spaß. Sie bewegte sich gerne.

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Hanne rief die drei Kinder zum Essen. An der Hofpumpe wuschen sie sich die Hände. Hanne brachte den Kuchen heraus, dicht gefolgt von Brolan, der einen Stapel Teller jonglierte, den er auf dem Tisch vor der Hüttentür platzierte. Mera nahm den Stapel und schob ihn Pietje zu. Pietje schob ihn weiter zu Yoralou. Diese kicherte und stellte den Stapel vor Hanne ab.
Meras Mutter schüttelte über den Unfug den Kopf, nahm jeweils einen einzelnen Teller nach dem anderen und meinte: „Weiterreichen!“ Die Kinder hatten noch nicht genug von dem Spiel. Die Teller wanderten so lange um den Tisch herum, bis sie sich wieder bei Hanne stapelten. Die Kinder lachten nun, dass ihnen die Tränen die Wangen hinunter liefen.

Brolan hatte die Tuhrte inzwischen aufgeschnitten, und als die Teller ein weiteres mal die Runde machten, tat er jedem ein großes Stück auf und die Teller-Wanderung endete. Sie aßen, bis sie satt waren. Das letzte kleine Stückchen brachte Mera hinüber zu Biggi, die ihre Zunge unerlaubterweise einmal durch Meras Gesicht zog und sich dann über die seltene Leckerei hermachte. Mera wischte sich die schleimige Wange ab. Sie versprach dem Dorg, morgen einen morschen Stamm zu suchen, mit vielen fetten Maden darin. Geschickt wich Mera dieses Mal der Zunge aus, und diese fuhr ins Leere. Mera griente.

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Bis zum Abend spielten die Drei mit dem Ballen, fütterten und bekuschelten gemeinsam die Kleinviecher. Waren Pietje und Yoralou schon Feydahn, fragte Mera sich, und philosophierte über die Fragen nach, ab wann Mitlernende Feydahn genannt wurden, und was Feydahnschaft eigentlich sei. Sie kannte Yoralou und Pietje eigentlich nur aus den Lerngruppen, aber als sie die beiden letzte Semane gefragt hatte, ob sie diesen bedeutsamen Tag und die anschließende Nacht bei ihr verbringen wollten, hatten beide begeistert zugestimmt.
Pietje fragte schließlich, warum sie so still geworden war. Sie hatten Trockengraswürfel zu einem Kreis aufgebaut und saßen mit den Kleinviechern – Pickets und flauschigen Chinsen zumeist – darin. Jeder hatte mindestens eines der Tierchen auf dem Schoß und fütterte es mit Kosenrohlblättern.
„Was sind Feydahn?“, antwortete Mera mit der Frage, die sie beschäftigte. „Und – sind wir Feydahn?“

Pietje überlegte: „Da gibt es Abstufungen, würde ich sagen. Wir sind bisher nur Lernbekanntschaften.“ Er und Mera sahen zu Yoralou hinüber, der sie ansahen, dass auch sie angestrengt über die Frage nachzudenken begonnen hatte.
„Ja, genau. Lernbekanntschaften. Wenn wie enge Feydahn wären“, sie betonte das Wort enge dabei, „würden wir auch mal kuscheln. Und immer füreinander da sein“, meinte sie.
„Ich fände es schön, wenn wir enge Feydahn würden“, sagte Mera leise. Bei dem Wort Kuscheln hatte sie Yoralous lange blaue Haare betrachtet, die diese mit einem gelben Band hinter dem Kopf zusammengefasst hatte und wünschte sich, ihre Finger diese Locken entlang gleiten zu lassen. Natürlich tat sie es nicht. Sie waren ja keine Feydahn. Und wenn sie es wären, hätte sie zuerst gefragt. Mera hätte auch zu gern Pietjes beinahe kahlen Schädel erforscht, der so aussah, als wäre dort die Haut besonders weich. Und wie es wohl wäre, von Feydahn bekuschelt zu werden? Sie drückte das Chinse, das sie auf dem Schoß hatte, fester an sich. Dieses trötete empört und hoppelte davon.

Als der Schatten des zweiten Mondes das Scheunentor verdunkelte, war es Zeit, sich für die Übernachtung fertig zu machen. Hanne hatte für die abendliche Brotzeit ein paar geröstete Würzeln vorbereitet und eine Schale Rinno-Milch mit Klunken. Mit den ausgefaserten Enden der Würzelspieße hatten sie ihre Zähne gereinigt. Sie würden im Langgras im Zwischendeck der Scheune schlafen.

Kuschelige Nächte

Sie hatten sich mit Decken und Tüchern ein Schlafnest in das lose Langgras auf dem Futterboden der Scheune gebaut. Es duftete herrlich nach dem getrockneten Gras und den ebenfalls trockenen Blumen darin. Unter ihnen im Stall machten die Tiere ihre Tiergeräusche, draußen schnarchte das Dorg.

Mera legte ihr Hemd und die Hose an der Leiter ab. Es schlief sich bequemer ohne. Die eng anliegende Unterwäsche würde nicht stören. Auch Yoralou und Pietje zogen sich aus und legten die Überkleider neben Meras Kleidung. In etwas mehr als Armbreite Abstand legten sie sich hin, deckten sich zu und schaufelten noch etwas Langgras über Beine und Körper, bis nur noch ihre Köpfe heraus schauten. Pietjes Beinahe-Glatze leuchtete zu Meras Linken und Yoralous blaue Locken schimmerten auf ihrer rechten Seite. Ihre eigenen tiefschwarzen Haare sollten eigentlich das Licht der Monde schlucken, leuchteten aber seltsamerweise an einigen Strähnen heller, reflektierten in einem dunkelrötlichen Widerschein.

„Wisst ihr schon, was ihr macht, wenn wir in ein paar Sonnenkreisen mit der Lernhalle fertig sind?“, fragte Yoralou.
Mera antwortete: „Ich denke, ich werde den Hof übernehmen. Aber das ist noch eine lange Zeit hin, bestimmt noch ganz viele Sonnenkreise.“
„Falls du dann jemanden brauchst, der ab und zu deine Tierchen durchkrault, sag Bescheid, dann komme ich vorbei“, versprach Yoralou sehnsüchtig, die zuhause keine Tierchen halten konnte, weil ihr Elter von Tierhaaren krank wurde.
„Ich soll die Bäckerei übernehmen“, sagte Pietje ohne Betonung.
„Aber du willst nicht“ stellte Mera fest.
„Nein, ich würde lieber Geschichten aufschreiben. Reisen. Ich wüsste gerne, wie es anderswo als in Dazel aussieht, wie die Menschen dort leben, wovon sie träumen.“ Pietje war immer leiser geworden. Hinter seinen Worten waren ungeweinte Tränen zu erahnen.
Bevor Mera darüber nachdenken konnte, sagte sie zu Pietje: „Komm mal rüber, ich muss dich in den Arm nehmen.“
Pietje war schon bei dem Wort ‚rüber‘ näher gerückt und schmiegte sich in Meras Umarmung. Sie hörte ihn nicht weinen und er schluchzte nicht, aber ihre Schulter, an der sein Kopf lag, wurde feucht von seinen Tränen. Sie zog ihn eng an sich. Weil es das Richtige war.

In ihrem Rücken hörte sie Yoralou fragen: „Kann ich…, kann ich auch mit euch kuscheln?“
„Klar, komm ran“. Mera hatte beide Arme um Pietje geschlungen, der sich nicht rührte. Sie fühlte, wie sich Yoralou an ihren Rücken schmiegte. Mera wollte Pietje nicht loslassen, aber sie wollte auch Yoralou umarmen. Mit dem oben liegenden Arm griff sie nach hinten und legte ihre Hand auf Yoralous Hüfte ab.
Diese legte ihrerseits einen Arm über sie und Pietje und streichelte abwechselnd Pietje und Meras Arme.
Pietje bewegte sich leicht, hob einen seiner Arme über Mera und legte ihn bei Yoralou ab, fand Meras Hand dort und verschränkte seine Finger in ihren.

Jetzt sind wir es wohl, enge Feydahn, dachte Mera, die es wagte, mit ihren Lippen zart Pietjes Kopf zu streifen. Und es fühlte sich tatsächlich so an, wie sie es sich ausgemalt hatte. Warm und zart und ein wenig flaumig.
Yoralou legte ihren Kopf in Meras Halsbeuge und seufzte leise. Und auch das fühlte sich absolut richtig an. Mera war glücklich. Es war der schönste Geburtstag überhaupt, dachte sie.

~

Ein schepperndes Geräusch weckte das Trio bei Anbruch des Tages.
„Was…?“, fragte Yoralou verschlafen. Mera musste einen Moment überlegen, warum sie nicht in ihrem Bett aufgewacht war. Ihr Kopf lag auf Yoralous Schulter. Sie richtete sich auf und betrachtete im Dämmerlicht die blaue Haarpracht, die ausgebreitet wie ein Fächer Yoralous Kopf umrahmte.
„Das ist Mutter. Sie schlägt mit einem Kochlöffel auf einen Pfannenboden. Unser Wecksignal“, erklärte Mera. Sie schaute sich nach Pietje um, der aussah, als wäre er bereits länger wach. „Dich muss niemand wecken, oder?“, vermutete Mera.
Pietje feixte: „Nee, wer aus Bäckereifamilien stammt, ist immer schon früh wach.“
Auch Pietje richtete sich nun auf. Gemeinsam weckten sie Yoralou noch einmal, die tatsächlich wieder eingeschlafen war.

„Wir sollten uns waschen, hier oben ist es ganz staubig“, überlegte Yoralou, „war hier nicht die Fosser in der Nähe?“
„Da könnten wir sogar schwimmen, wenn ihr möchtet“, bestätigte Mera. „Aber wir nehmen Biggi mit.“
Pietje schaute etwas ängstlich. „Das Dorg ist groß…“
„Biggi tut nichts“, beruhigte Mera. „Nicht, wenn ich dabei bin.“

Sie ließen ihre Kleidung in der Scheune, nahmen nur die Tücher mit, um sich hinterher damit abzutrocknen und sagten Hanne Bescheid, wohin sie wollten. Diese drückte ihnen je eine zusammengeklappte Botterstulle in die Hand und mahnte Mera, nicht zu lange weg zu bleiben, weil das Kleinvieh noch versorgt werden wollte.
In ihrem Unterzeug, mit den Tüchern über die Schultern gelegt, wanderten sie zum Fluss hinunter, ihre Stullen kauend. Pietje nahmen sie dabei in die Mitte, damit er nicht zu nah an Biggi sein musste. Das Dorg rannte, wie üblich, hechelnd die Strecke voraus.

Das Gras auf dem Waldpfad war noch feucht von Tau und angenehm weich unter ihren Füßen. Die Sonne kämpfte sich über den Horizont, in den Bäumen sangen die Flugechsen. Mera warf, als sie am Ufer bei der Erlke angekommen waren, zunächst einige Kiesel in den Fluss, um Biggis überschüssige Energie abzubauen. Dann befahl sie dem Dorg am Ufer zu warten. Die Tücher hängten sie über die unteren Äste der umstehenden Bäume, dann zogen sich die drei aus, hängten die Unterwäsche zu den Tüchern.

„Oh, du hast ja schon Brüste“, sagte Mera zu Yoralou und sah danach an sich selbst hinab. „Hanne sagt, meine werden wohl erst im nächsten Sonnenkreis zu sehen sein.“ Dann sah sie zu Pietje hinüber. „Ich wünschte auch, dass mein Penis endlich wachsen würde.“
Yoralou kicherte. „Du bist ein Mädchen. Da wächst nichts an der Stelle. Aber deine Brüste kommen sicher bald“, sagte sie überzeugt, ohne überhaupt genauer hinzusehen.
Pietje nickte zustimmend.

Mera war verwirrt. Sie war doch das Kind ihrer Eltern, sollte sie dann nicht auch von beiden die körperlichen Merkmale geerbt haben? Sie glaubte nicht, dass es so war, wie Yoralou sagte. Mein Penis ist noch klein und meist nicht zu sehen, wie gerade jetzt auch, aber… sie schaute auf das Dreieck zwischen Yoralous Beinen. Sieht das anders aus als bei mir? Könnte Yoralou doch recht haben?! Pietje und Yoralou waren inzwischen zum Ufer gegangen und stiegen langsam in die Strömung. Pietje rief sie: „Kommst du?“

Biggi grollte leise. Mera war von ihren Gedanken abgelenkt und befahl – ohne nachzusehen – dem Dorg ruhig zu sein. Biggi gehorchte und sah mit weit aufgerissenen Augen dem großen Schatten hinterher, der sich aus der Krone der Erlke erhob und tiefer in den Wald flatterte.

~

Nachdem Pietje und Yoralou nach der Mittagszeit gegangen waren, kehrte wieder Alltag und Routine auf dem Orfe-Hof ein. Mera ging am Abend noch einmal in den Wald, um wie versprochen für Biggi ein Stück Moderholz zu finden. Zuerst ging sie jedoch zum Blumenhang. Dort wusste sie von einem Weebees-Nest in einem hohlen Baum und schaffte es auch dieses Mal so vorsichtig zu sein, den Honigsammelnden eine kleine Ecke von deren Vorratswaben abzubrechen, ohne dass Weebees sich auf sie stürzten. Mera knabberte und lutschte das meiste davon und legte den Rest hoch auf einen halb umgestürzten Baum. Die Flugechsen in der Nähe warteten schon gierig. Kaum, dass Mera verschwunden war, flatterte etwas Großes heran und stürzte sich hungrig auf die süße Wabe. Die Echsen flitzten fiepend zur Seite. Sie würden heute leer ausgehen.

~

Mera lag wieder in ihrer Koje unter dem Hüttendach. So vieles war seit gestern geschehen. Sie versuchte, eine Struktur in ihre Gedanken zu bekommen. Zuerst: sie war nun ein Dutzend Sonnenkreise alt. Das fühlte sich immer noch sehr aufregend an. Dann erinnerte sie sich an den letzten Abend, als sie mit Pietje und Yoralou gekuschelt und Feydahnschaft geschlossen hatte. Mera war sich über die Reihenfolge unsicher. Yoralou hatte gesagt, nur enge Feydahn würden kuscheln. Aber sie hatten ja zuerst gekuschelt – und waren dann erst Feydahn geworden. Es war kompliziert. Das Kuscheln jedoch war schon schön gewesen. Mera versuchte sich an das Gefühl zu erinnern, das sie empfunden hatte, als Pietje und Yoralou sie gestreichelt hatten. Ihre eigenen Hände strichen über jene Stellen, an den Armen und an ihrem Oberkörper. Es war mit sich selbst nicht dasselbe, aber es fühlte sich trotzdem schön an. Mera glitt, sich selbst umarmend, in einen Halbschlaf. Aber kurz, bevor sie ganz einschlief, erinnerte sie sich an das Gespräch am Fluss. Und sie war wieder wach.

Mädchen haben keinen Penis, hörte sie Yoralou sagen. Das glaube ich einfach nicht, dachte Mera. Ihre Finger glitten unter die Bettdecke, öffneten den Spalt zwischen ihren Beinen und tasteten suchend nach dem Körperteil, den sie laut ihrer Feydahn nicht haben dürfte. Er war klein, nur knapp daumengroß, aber er war da. Mera streichelte darüber und rieb daran, wie sie es manchmal tat, wenn sie nicht gleich einschlafen konnte. Es fühlte sich gut an, es gehörte zu ihr. Ich habe einen. Egal was alle anderen sagen. Als sie sich erleichtert hatte, schlief sie ein, ohne es zu bemerken.

Pan

Wir hängen an den Füßen in einem Baum, stellte Pan fest. Ich bin vermutlich im Geist eines Tieres gelandet. Ein Wesen, das mit dem Kopf nach unten ausruht. Das scheint nichts ungewöhnliches für dieses Tier zu sein, dachte Pan. Ich muss herausfinden, zu welcher Art dieses Tier gehört, was es als Nahrung braucht. In einer verbliebenen Ecke seiner Gedanken fragte sich das Tier, was in seinen Geist eingedrungen war. Pan schickte es in einen tiefen Schlaf – und bereute es sofort, denn damit war die Information der Ernährungsfrage ebenfalls eingeschlummert. Pan erforschte den Körper. Da waren Augen, sonst wären die Füße nicht zu sehen gewesen. Und vermutlich war es nachtaktiv, denn das Morgenlicht tat den Tieraugen weh. Pan schickte einen Gedanken in die Arme. Da waren keine. Es sind Flughäute – und da war Fell am ganzen Körper. Pan öffnete probehalber die Flügel. Ohne die Unterstützung des Tieres wäre ein Flug zu riskant. Pan wollte seufzen, aber diesen Laut konnte die Schnauze des Tieres nicht formen.

Unterhalb des Baumes tat sich etwas. Ein haariges Drachengetier tauchte auf, und danach ein Menschenkind, das nun auf diesen Baum kletterte. Pan verspürte Panik. Das Menschenkind blieb jedoch auf dem unteren dicken Ast. Nun konnte Pan auch erkennen, was sich unterhalb des Baumes befand. Das Getier stürzte sich ins Wasser. Das war dann also ein See oder ein Fluss, an dessen Ufer dieser Baum stand. Wenn das Menschenkind nur einen Blick nach oben täte, würde es uns entdecken, dachte Pan. Aber nichts dergleichen geschah. Menschenkind und Drachenwesen gingen davon, ohne Pan bemerkt zu haben.
Pan hing herum, bis das Tier wieder erwachte. Sie kletterten soweit den Baum hinunter, bis Pan im ruhigen Seitenwasser des Flusses ein Spiegelbild sehen konnte.

Bei der Verschmelzung!, fluchte Pan wortlos, eine Flugratte. Von allen geeigneten Wesen dieser Welt Arsadun musste es ausgerechnet eine Flugratte sein. Es waren kluge Tiere. Meist war es einfacher, andere Wesen zu übernehmen. Dies hier würde hart werden. Und tatsächlich brauchte es den gesamten restlichen Tag, bis die Ratte Pan halbwegs als Mastermind in ihrem Kopf akzeptierte. Schwerfällig flatterten sie zurück in den Baum. Sie hatten Hunger, aber das Tier war zu erschöpft zur Nahrungssuche.

Am nächsten Morgen war das Menschenkind mit dem Drachengetier wieder da. Und zwei weitere Menschenkinder. Das Drachengetier hatte das Kachimunia bemerkt und knurrte. Bevor Pan es verhindern konnte, flatterte die Flugratte panisch auf und floh unbeholfen tiefer in den Wald. Pan gab der Ratte geistig mehr Raum, nicht zu viel, sonst hätte das Flugtier wieder die Oberhand gewonnen. Sie mussten unbedingt etwas zu fressen finden. Die Ratte kooperierte nicht mehr. Pan begann zu verzweifeln.

Als das Menschenkind Stunden später die WeeBee-Wabe auf dem Baum ablegte, übernahm das Kachimunia den Körper. Kaum war das Menschenkind außer Sicht, stürzte sich das Fledertier auf die süße Beute. Mit genügend Energie ging die Ratte auf Nahrungssuche. Elegant hob sie ab, fand einen Baum voller Früchte, landete gekonnt und begann zu fressen. Satt hing es sich danach wieder in der Erlke auf und überließ willig Pan den Körper.

Pan verstand. Das Tier würde sich nur freiwillig unterwerfen, wenn es seinen Grundbedürfnissen folgen konnte. Vielleicht hatte Pans Elter recht gehabt. Vielleicht war em zu jung für einen Geist-Transfer von Plutor nach Arsadun. Vielleicht würde em es nie zurück schaffen. Vielleicht würde em nie ein Anam Cara für sich auf dieser Welt finden. Em wollte weinen. Die Ratte wollte – und konnte – das nicht.

Anam Cara

Mera saß allein am Ufer der Fosser. Sie musste erst später wieder auf dem Hof helfen, sie hatte Zeit zur Muße. Sie aß langsam eine große Botterstulle. Brolan hatte das Brot gebacken, mit Sorinen und Naselhüssen. Er hatte es übertrieben, fand Mera. Die Trockenfrüchte sahen für sie aus wie die Leiber von aufgedunsenen Insekten, daher polkte sie die meisten Sorinen aus der Stullenoberfläche. Sie warf sie in den Wasserbereich, von dem sie wusste, dass dort Scherer in Höhlen in der Böschung lebten. Wenn sie nicht schnell genug waren, schnappten sich flinke Glibblinge die trudelnden Sorinen. Pan beobachtete alles aus der Höhe. Wir haben Hunger, dachte Pan, als der Magen der Ratte auch schon vernehmlich knurrte.

Mera hörte das Geräusch und sah nach oben. Oh, eine Flugratte. Kachimunias sind selten in dieser Gegend, dachte sie. Die Ratte schmatzte mit ihrer schwarzen Schnauze und leckte mit einer beeindruckend langen gelben Zunge darüber. Die Augen schimmerten hell, rot und hektisch, die beweglichen Ohren durchscheinend im Gegenlicht rosa, der Rest des Körpers war in hellblaues Fell gehüllt. Mera war hingerissen von der Schönheit des Tieres. Vorsichtig brach sie ein Stück von der Stulle ab und zeigte es der Flugratte auf der flachen Hand. Diese schaute nervös zu, die zartrosa Flügel schon halb gespannt, als wolle sie flüchten. Mera beugte sich weit zur Seite und legte das Bröckchen, immer so, dass die Ratte es sehen konnte, weit neben sich ab. Dann beachtete sie das Wesen über ihr nicht weiter und kehrte zurück zu ihrer Scherer-Fütterung.
Eine Weile hörte sie nur das unentschlossene Schnaufen und Lecken des Tieres – dann ein Schaben von Krallen auf Borke, als das Kachimunia sich den Stamm hinab bewegte. Aus den Augenwinkeln sah sie zu, wie das große Fledertier misstrauisch an dem Stullenstück schnupperte, hineinbiss und kurz darauf beinahe genießerisch mit geschlossenen Augen zu kauen begann. Mera war verblüfft. Das war mehr an Reaktion, als sie gehofft hatte. Schnell schaute sie wieder von der Ratte auf das Wasser, um das Wesen nicht mit Augenkontakt zu bedrängen. Die Ratte schmatzte wieder. Mera schaute vorsichtig doch wieder hin. Das Tier schien irgendwie mit sich selbst zu hadern, ob es fliehen oder bleiben sollte, aber der Blick ging von Meras Stulle zu Meras Augen und zurück.

Meras Herz klopfte. Das glaub ich jetzt nicht, dachte sie. Ein weiteres Stück, behutsam geworfen, landete vor der Rattenschnauze und wurde gierig verschlungen. Bei jedem geworfenen Bröckchen rückte der große Obstfresser näher. Das letzte Stück hielt Mera ihm, ohne Augenkontakt, auf der geöffneten Handfläche hin. Sie hoffte, das Tier würde den Unterschied zwischen Hand und Brot differenzieren können. Anderenfalls hätte sie ein Beißproblem. Sie fühlte den warmen Atem des Tieres stoßweise schnuppernd auf ihrem Handteller. Und dann, wie – ganz zart – die Zunge darüber strich und das Brotteil dabei mitnahm.

Mera kannte die schnelle schleimige Zunge des Dorg. Diese hier war jedoch kaum feucht. Eher wie ein raues Tuch, wenn es, noch warm vom Waschwasser, so fest ausgewrungen, dass es kaum noch Feuchte enthielt, über ihr Handgelenk gezogen würde. Verlangend schmatzte die Ratte neben ihr. Mera reckte die leere Hand, um zu zeigen, dass wirklich nichts mehr von der Botterstulle übrig war. Wieder zog die gelbe Zunge warm über den Handteller, sehr langsam diesmal, und ließ Mera beinahe schaudern. Auf eine besondere Art schien das Tier etwas ausdrücken zu wollen. Dankbarkeit? So eine Berührung hatte Mera noch nie gefühlt. Es war sehr bedeutsam. Das Tier verhielt sich ungewöhnlich, fand Mera.

Es war Zeit für die Abendfütterung, sie musste zurück zum Hof. Mera hatte jedoch Angst, ihre tierische Bekanntschaft zu erschrecken, wenn sie nun einfach aufstand. Ein wenig Zeit war wohl noch, erlaubte sich Mera, diesen Moment mit dem Wildtier auskostend, das in Armeslänge Abstand neben ihr hockte, elegant und unbeholfen zugleich.

Mera begann ein altes Wiegen-Lied zu summen. Von Mahmuna der Gottheit der Kachimunias, die einst mit den Menschen auf Arsadun die Obstbäume geteilt hatte. In der Legende hieß es, die Menschen und Flugratten hätten einen Pakt geschlossen, der besagte, einen Obstbaum nie zur Gänze zu ernten, damit beide Spezies davon leben konnten. Diese Tradition wurde noch immer eingehalten. Auch wenn es nur noch wenige Flugratten gab. Kleine Flugechsen, die ihre Nester in den Erntebäumen bauten, und darin den lieben langen Tag tirilierten, profitierten von dem Restobst und verbreiteten auf ihre eigene Weise die Samen der Bäume. In der Lernhalle hatte Mera das Prinzip dazu erklärt bekommen. Die Legende mochte halb erfunden sein, aber der Gedanke der Kooperation hielt sich durch die Lieder und Erzählungen immer frisch. Solange Bäume sowie Kachimunias geschützt wurden, würde es genug Obst für alle geben.

Meras Summen wurde zu leisem Gesang, das Kaschimunia legte den Kopf schief, die roten Augen glommen im Abendlicht.

Ma Mahmuna mahnt Menschenkind
Ernte nur halb, wird Essen bald
Teilet das Obst, wo Bäume sind
tut ihr es nicht, kommt große Not
Zu große Gier tötet den Wald
Kein Brot, kein Obst – alle sind tot
Ma Mahmuna, Ma Mahmuna.

Mera sah auf. Die Flugratte war unbemerkt wieder in den Baum geklettert. Die roten Augen funkelten zwischen den Blättern hervor. Trotz der auffälligen Farbe war es kaum in der Erlke zu entdecken. Mera sputete sich. Das Kleinvieh wartete daheim.

Anam Cara 2

Von den zehn Mischans des Sonnenkreises waren die nun folgenden die schlimmsten. Der übliche Regen zu dieser Zeit war ausgeblieben. Der Wald in dieser Gegend, und vielleicht in ganz Dazel, wer wusste das schon genau, war viele Semanen lang ohne nennenswerten Niederschlag gewesen. Schon den dritten Sonnenkreis in Folge hielt die Dürre an. Die Fosser, in dem Glibblinge und andere Fische ums Überleben kämpften, trocknete bis auf ein Rinnsal aus. Sie konnten sich jedoch in schattige Kolke retten, die aufgrund ihrer Tiefe immer mit Wasser gefüllt waren. Die Scherer hatten sich im Schlamm eingebuddelt und harrten besserer Zeiten. Die Flugechsen, die sonst in den Zweigen sangen, waren in grünere Gebiete gezogen, im ausgetrockneten Wald war es ungewöhnlich still geworden. An den Bäumen hingen nur kleine schrumplige Früchte. Den Bäumen, die für gewöhnlich nach der Regenzeit blühten, waren die Knospen verdorrt.

In Brolans Gesicht hatten sich neue Falten gebildet. Hanne lachte nicht mehr. Mera streifte immer öfter und weiter durch den Wald. Sie war mager geworden. Ihre Botterstullen, die zuletzt zu immer dünneren Scheiben aufgeschnitten worden waren, teilte sie trotz allem mit dem Kachimunia. Die große Flugratte folgte Mera unauffällig und flatterte heran, sobald Mera sie mit der Stulle lockte, oder mit selten gewordenen Honigwaben aus den wenigen WeeBees-Nestern, die noch halbwegs Vorräte gespeichert hatten. Mera entnahm nie zu viel. Aber auch diese Nahrungsquelle würde bald nicht länger zur Verfügung stehen, wenn es nicht endlich regnete. Mera hatte sich, entgegen ihrer Gewohnheit, die Wälder schweigend zu durchwandern, angewöhnt, leise mit ihrer Begleitung zu reden. Das Tier legte immer den Kopf schief, als ob es jedes Wort verstünde. Und eines Tages war die Ratte einfach verschwunden. Mera rannte tagelang, wann immer sie Zeit fand, hinaus zur Erlke. Vergebens, der Baum war rattenfrei.

Nach fast einer Semane hörte Mera auf dem Heimweg von der Lernhalle ein Floppern über sich. Das Kachimunia war wieder da. Aufgeregt wurde Mera umflattert. Es hatte etwas in den Greiffüßen, sah Mera. Die Ratte öffnete ihre Zehen, als sie Mera anflog. Zwei Pomsels rollten ihr vor die Füße. Nicht übermäßig groß, aber reif und saftig, wie sie feststellte, als sie in einen hineinbiss. Die Ratte landete vor ihr und kroch unbeholfen auf sie zu. Es war kein Baum in der Nähe, an dessen Äste sich das Tier hätte hängen können. Der Boden war sichtlich nicht der Lebensraum eines Kachimunias. Aber die Ratte sah irgendwie zufrieden aus, fand Mera.

„Willst du auch mal?“, bot Mera ihr ihren halben Pomsel an.
Die Ratte öffnete ihr schwarzes Maul, entrollte die gelbe Zunge, die sie Mera zeigte. Darauf lag ein kleiner Pomsel.
„Ah ich sehe, du hast schon“, meinte Mera. Die Zunge verschwand wieder im Rachen und an der Backe des Tiers erschien eine Beule. Nun sah Mera auch, dass damit eine Symmetrie wieder hergestellt worden war. Vermutlich war auch in der anderen Backe eine dieser Früchte deponiert. Sie hatte nicht gewusst, dass Kachimunias Futter in den Backen horten konnten.

„Wo hast du das frische Obst nur her?“ fragte Mera, ohne auf Antwort zu hoffen. Die Flugratte überraschte sie mit einer deutenden Geste des Kopfes in eine bestimmte Richtung. Das konnte nicht sein, dachte Mera. Wie in Trance hob sie dennoch den Arm, zeigte in die selbe Richtung und fragte: „Dort?“
Die Ratte blickte sie an, ihre Schnauze verzog sich zu einer Grimasse, die Mera als Lächeln interpretiert hätte, wenn ein Mensch vor ihr gestanden hätte.
„Steck nochmal deine Zunge raus!“, testete Mera ihren Verdacht.
Ein breites gelbes Körperteil streckte sich ihr gehorsam entgegen. Mera wurde beinahe schwindlig. Entweder war allen Menschen entgangen, wie intelligent Kachimunias eigentlich waren oder dies hier war ein ganz besonderes Exemplar.
„Sind alle deiner Art so außergewöhnlich wie du?“ fragte sie. Das Tier sah unglücklich aus, ließ die Ohren hängen. Oups, dachte Mera, zu schwierig zu beantworten, versuchen wir es einfacher.

„Weißt du, was blinzeln ist?“
Das Tier blinzelte.
Mera hob zwei Finger. „Zweimal blinzeln, bitte.“
Die Ratte blinzelte zweimal.
Mera biss noch einmal vom Pomselrest ab, kaute selbstvergessen und steckte sich dann den Rest in den Mund.
„Versuchen wir es mit Ja – einmal blinzeln, zwei mal für Nein. Ist das ein Fuß?“
Mera hob eine Faust. Das Kachimunia blinzelte zweimal. Mera machte die Gegenprobe: „Ist das eine Hand?“
Das Flederwesen blinzelte einmal.
Mera sandte ein Stoßgebet an Ma Mahmuna.
„Kannst du mich zu dem Pomselbaum bringen?“
Ein Blinzeln war die Antwort.
„Ist es weit?“ Zweimaliges Blinzeln.
„Einen Tag? Zwei Tage?“
Pan sah auf die Flughäute des Kachimunias, blinzelte einmal, dann auf Meras Füße und blinzelte zweimal.
Zu Fuß zwei Tage also, vermutete Mera, mindestens.
Mera musste sich setzen. Sie hockte sich an den Wegrand ins vertrocknete Moos.

Mera musste das nun fragen: „Hast du… einen… Namen? Ich bin Mera, aber das weißt du dann wohl schon.“
Sie hielt die Luft an, als die Ratte einmal blinzelte, sich vorbeugte, eine Flughaut öffnete und mit ihrer Greifkralle ungelenkt etwas in den Staub furchte.
Mera las über Kopf mit: P A N
„Pan?“
Pan nickte erleichtert und versuchte erneut, mit der Schnauze der Ratte ein Lächeln zu produzieren.

Mera überdachte die Situation. Das würde ihr weder zuhause noch in der Lernhalle irgendjemand glauben. Das Kachimunia, Pan, hatte sich bisher geweigert, sich überhaupt anderen Menschen zu zeigen. Und ohne Beweis. . .
Mera starrte auf den zweiten Pomsel, den sie noch immer in ihrer Hand hielt.
„Pan, sind da viele Pomsels?“ Pan nickte blinzelnd.
„Also gut. Wir brechen heute Nacht noch auf.“
Hanne und Brolan würden verstehen, warum sie ging, gehen musste. Wenn sie nur mit genügend Pomsels zurückkam. Hoffte Mera.

Langsam stand sie wieder auf. „Am liebsten würde ich dich ganz doll knuddeln.“
Pan hatte Zweifel, ob em die Ratte soweit unter Kontrolle behalten konnte, eine Umarmung auszuhalten und wich unwillkürlich zurück.
„Keine Angst, keine Umarmung dann. Aber einmal dein Fell streicheln, ganz vorsichtig?“ bot Mera an.
Wir schaffen das, dachte Pan, robbte wieder vor und beruhigte die Ratte, als sich Meras Hand näherte. Nur mit den Fingerknöcheln und dem Handrücken strich Mera sachte über das blaue Fell am Nacken des Kachimunias. Nur ein einziges Mal. Pan erschauderte wohlig, und ebenso die Ratte.
„Jetzt sind wir Feydahn“, flüsterte Mera.
Pan legte den Kopf schief. Diesen Begriff gab es auf Plutor nicht. Aber es klang nach Vertrauen und Verbundenheit.

Im Tal der Pomselbäume

Mera fieberte dem Abend entgegen. Sie erledigte ihre Aufgaben auf dem Hof wie gewohnt. Dabei packte sie den einen oder anderen Gegenstand unauffällig beiseite. Sie würde, wenn es dort wirklich viele Pomsels gab, viele Netze brauchen. Da es ohnehin kaum Ernteertrag gab, waren etliche der geflochtenen Beutel unbenutzt und Mera versteckte sie unter dem Langgras in der Scheune.
Dort hatte sie schon ein langes dünnes Seil deponiert – sie wusste nicht, ob sie es brauchen würde, aber ein Seil dabei zu haben, konnte nie schaden.

Später legte sie das Messer dazu, dass sie heimlich aus Brolans Lade entwendet hatte. Mera fühlte sich schlecht dabei, denn es war ein gutes Messer und Brolan hatte einst einen nicht unerheblichen Teil ihrer Ernte dafür hergegeben. Mera nahm sich vor, darauf achtzugeben und es unbeschadet wieder zurückzubringen. Aber sie wusste nicht, was ihr begegnen würde, sie brauchte es dringender, dort wo sie hinging, als Brolan hier auf dem Hof.

In ein Tuch schlug sie einige Naselhüsse, einen harten Kanten einer Stulle und eine kleine Handvoll Sorinen ein. Mera verzog das Gesicht, als sie das Tuch verknotete und zu den Schätzen unter das Langgras schob. Auch wenn sie Sorinen nicht mochte, sie bedeuteten, dass sie nicht zu sehr hungern würde. Es war wenig genug im Tuch und würde für zwei bis drei Tage reichen müssen. Den Schlauch aus Zigot-Haut würde sie später an der Fosser mit Wasser füllen.

Bei Anbruch der Nacht wurde es ruhig auf dem Hof. Mera wartete, bis sie meinte, ihre Eltern würden schlafen. Dann wartete sie vorsichtshalber noch ein wenig länger. Phob und Deim schoben sich in den dunklen Himmel und tauchten die Lichtung mit dem Hof in ein unirdisches Licht. Zeit, aufzubrechen. Mera warf ihre zusammengerollte Kleidung durch die Luke auf den Hof. In Unterwäsche und Socken schlich sie die Stiege hinab. Falls sie gefragt würde, könnte sie so sagen, dass sie sich draußen im Abort erleichtern wolle – dies in Kleidung zu tun, mitten in der Nacht, hätte verdächtig ausgesehen. Mera nahm sich ihre festen Schuhe aus dem Regal, öffnete die Hüttentür und trat in das Licht der Monde. Biggi hob den Kopf. Mera beruhigte sie mit der Geste, die ‚Hinlegen. Bleiben‘ bedeutete. Sie war nun sehr froh, dass sie ihrer Eingebung gefolgt war, mit Biggi auch Nonverbales eingeübt zu haben.

Mera lauschte. Nichts rührte sich im Haus. Sie sammelte ihr Kleiderbündel ein und schlich zum Stall hinüber. Sie wusste, wie sie das Tor ohne Geräusch aufmachen konnte. Da das Quietschen und Scharren, das bei normalem Öffnen zu hören war, schmerzhaft in ihren Ohren schrie, hatte Mera viel Zeit darauf verwandt, diese Fertigkeit zu üben. Sie schmunzelte in sich hinein. Wie oft hatte Brolan den Kopf geschüttelt, wenn er sie dabei beobachtet hatte. „Tore knarzen nun einmal“ hatte er gesagt. Sie zog sich in der Scheune um, geschützt von der Dunkelheit. Die leisen Geräusche, die sie dabei machte, gingen im allgemeinen Chor der Tierlaute unter.

Mera sammelte ihre gehorteten Dinge aus dem Versteck, verstaute sie sinnvoll am Körper und in den Taschen. Das Messer sicherte sie doppelt. Mera blickte sich noch einmal um. Ihr Zuhause. Die Tiere lagen oder standen in ihren Boxen, einige schliefen, manche kauten. Viele Boxen waren nun leer. Mera, wandte sich um, stieg auf der Rückseite der Scheune aus der Luke und verschmolz kurze Zeit später mit den Schatten des Waldes.

Das Licht der beiden Monde war ausreichend, um dem Tierpfad zu folgen, der sie an die Fosser brachte. Sie hatte sich bemüht, leise zu sein, aber Pan hatte sie bereits gehört. Und vermutlich auch längst gesehen. Mera erinnerte sich an die Nachtsichtfähigkeiten der Flederratten. Pan umflatterte sie einmal und hängte sich an einen Ast der Erlke. Geduldig wartete das Kachimunia, bis Mera ihren Beutel mit Wasser gefüllt hatte, dann flog es voraus. Mera fiel in einen leichten Trab. Diese Gangart brachte sie schnell voran und ermüdete sie nicht. Nicht sehr, denn müde war sie trotzdem, da sie eigentlich um diese Zeit schlafen würde.

Pan hatte in einem abseits und tiefer gelegenen Waldstück noch ein paar halb vertrocknete Früchte finden können, die em Mera im Flug zuwarf. Es waren Rispen mit zähen Dutteln und eine wurmstichige Biramelle, die Mera im Gehen aß. Immerhin besser als die Sorinen, die sie nun für später aufheben konnte. Gegen Morgen musste sie ein Nebengewässer der Fosser überqueren. Der Bach war so trocken gefallen, dass Mera mit einem Sprung darüber setzen konnte. Es roch nach gerösteten, taufeuchten Algen. Die Wasserpflanzen lagen ausgedörrt über den schwarzen Bachsteinen. Mera stolperte die flache Böschung hinauf. Nur ein kurzes Stück noch, dann wäre eine kurze Pause fällig.

Unter einer ausladenden Kusstannie legte sie sich lang hin. Ihr Gepäck drückte ein wenig im Rücken, aber das war ihr nicht wichtig oder schmerzhaft genug, um sich umzubetten. Sie schaute nach oben in den Baum und sah Pan an einem Ast hängend direkt über ihr, mit roten Augen auf sie hinab blickend. Beinahe hätte sie nach oben gegriffen und das Kachimunia-Gesicht gestreichelt.

Mera gab sich nur ein paar Minuten. Sie setzte sich auf, schaute sich um. Der Wald war lichter geworden. Irgendwie steiniger. Unter der Kusstannie lagen aufgebissene Schalen. Mera wunderte sich, welches Tier so starke Kiefer oder die Zähne dazu hatte, die harten Panzer um die Kerne knacken zu können. Wenn es Spuren gegeben hatte, dann waren sie längst verweht. Oder es konnte fliegen, wie ihre wortlose Begleitung. Zuhause würden sie nun langsam aufwachen. Hanne würde mit dem Kochlöffel auf die Pfanne schlagen und Brolan die Rinnos melken. Hoffentlich kümmerte er sich um Biggi. Mera kramte in ihrem Tuch nach dem trockenen Kanten. Sie roch daran. Ein Stück Zuhause. Mera brach eine kleine Ecke ab und dann noch eine, den Rest verstaute sie wieder im Tuch in ihrer Latzhose. Die eine Ecke knabberte sie selbst, das andere Stück gab sie Pan. Eine Weile war nur das angestrengte Kauen und Mahlen von Backenzähnen auf altbackenem Brot zu hören.

Die Flugratte kletterte ein paar Äste höher und startete von dort aus in den dämmerigen Morgenhimmel. Mera rappelte sich hoch, tat einen tiefen Schluck aus dem Wasserbeutel, und folgte dem blau-rosa Schatten. Sie ging noch bis in den Vormittag hinein. Das Gras war braun vor Trockenheit. Nur vereinzelt standen noch Bäume. Es roch nicht mehr nach Wald. Ein heißer Wind strich über die felsige Gegend.
In einer Senke zwischen den Hügeln standen eine Gruppe halb abgestorbener Naddelbäume und hohe Büsche. Die verbliebenen Naddeln waren alle gelb. Als Pan einen der dickeren Bäume anflog, verursachte die Erschütterung einen Naddelregen. Die Ratte schnaubte knurrend und schüttelte sich den blauen Pelz.

Auch der felsige Boden war mit piksenden Naddeln übersät. Mera hätte sich gerne hingelegt. Oder aufgehängt, wie Pan. Das Kachimunia schlief bereits, wie sie am leisen Schnorkeln des Atems hörte. Mera hatte eine Idee, wie sie sowohl hängen als auch liegen konnte. Zwei der dickeren Stämme standen nahe genug beieinander und zudem im Schatten der hohen Büsche. Sie nahm das Seil, rollte es ab und band es um einen der Naddelbäume. Die zwei Enden legte sie in Richtung des andern Baumes. Mera fädelte die geflochtenen Netze in engem Abstand zwischen beide Seile und verknotete die andere Seite am zweiten Naddelbaum. Sie legte das mitgebrachte dünne Schlaftuch über die Bett-Konstruktion, sich selbst vorsichtig darauf und war zufrieden mit ihrer improvisierten Hängematte. Dann stand sie noch einmal auf, zog Hose und Hemd aus, hängte die Hose an einen Ast und deckte sich mit dem Hemd über dem Bauch zu.

Mera erwachte, als eine lange, warme Zunge langsam an ihrem Arm entlangfuhr. Das Kachimunia hatte sich über ihr aufgehängt und leckte ihr das Salz von der Haut, das ihr Schweiß dort zurückgelassen hatte. Auch Gesicht, Hände und Beine wurden nicht ausgespart. Bevor die gelbe Zunge den Rest ihres Körpers erkunden konnte, setzte Mera sich auf. Das ging ihr nun doch zu weit. Sie hatten Dringenderes zu tun. Auch wenn es sich vielleicht interessant angefühlt hätte, vermutete Mera und wünschte sich plötzlich Dinge, für die sie noch keine Namen hatte.

Nach dieser seltsamerweise erfrischenden Rattenwäsche teilten sie sich das mitgebrachte Essen. Mera würgte tapfer ein paar Sorinen hinunter, gab Pan den Rest davon ab. Einige Naselhüsse, die Pan jedoch verschmähte, vervollständigten das karge Mahl. Sie teilte auch das Wasser im Beutel, dessen Inhalt schon halb leer war. Es wäre gut, wenn sie den Schlauch bald wieder auffüllen konnten, dachte Mera stirnrunzelnd. Sie zog ihr Hemd und die Latzhose an, klaubte die Schuhe vom Baum, die sie dort hingehängt hatte, damit keine Krabbler oder Schlängler, die es hier geben mochte, sich dort einnisten konnten. Nachdem sie auch das Seil und die Netze wieder verstaut hatte, setzten sie ihre Wanderung fort.

Viele Stunden später ruckte Mera aus ihrem Lauftrance hoch. Ein Rauschen lag in der Luft. Da floss eindeutig Wasser. Es roch nach Nebel. Rings um Mera herum war nichts als karge Landschaft. Ihr Blick suchte nach Pan. Als wäre das ein Stichwort, tauchte das Kachimunia in einiger Entfernung wie aus dem Erdboden gespien auf, gewann mehr Höhe und kam auf sie zu geflattert. Pan trug eine Pomsel in den Klauen. Mera fing sie geschickt auf. Gierig biss sie hinein. Süß und kühl schmeckte die Frucht und der Saft rann Mera das Kinn hinab. Die Flederratte brachte es fertig, sich im Fliegen direkt über Mera die Feuchtigkeit aus dem Fell zu schütteln.

„Das heißt, wir sind da, oder?“, lachte Mera freudig auf, sich die Tropfen aus dem Gesicht wischend. Sie rannte zu der Stelle, von wo Pan aufgetaucht war. Vor ihr öffnete sich eine Schlucht. Mehrere Wasserfälle schossen, aus seitlichen Quellen gespeist, in die Tiefe. Über dem üppigen Grün stand eine feine Gischtwolke. Mindestens die Hälfte der Bäume dort unten stand voller Früchte. In einer Stunde würde die Sonne untergehen. In Dunkelheit würde sie sich nicht zutrauen dort hinunter zu klettern. Auch nicht bei Mondschein. Mera suchte nach einer gangbaren Möglichkeit. An einer Seite war es weniger steil und ein Tierpfad schien dort an der Felswand entlang zu führen. Pan war inzwischen gelandet und dicht neben sie gekrabbelt. Geistesabwesend kraulte sie die riesige Ratte im Nacken, während sie in Gedanken einen Kletterplan erstellte. Sie bemerkte ihren Irrtum, als das Flugwesen neben ihr vor Wohlbehagen zu schnurren begann.

„Oh, entschuldige, Pan, ich dachte wohl für einen Moment, Biggi säße neben mir“, stammelte Mera betroffen. Das Tier schob seinen Kopf unter ihre Hand. In ihren Gedanken hörte sie eine Stimme sagen: „Schon in Ordnung, ist angenehm.“
Mera strich noch ein-, zweimal über Kopf und Ohren und ging zur Felskante vor, um ins Tal hinabzusteigen. Dann stoppte sie abrupt und drehte sich zu Pan herum.
„Warst du das eben in meinen Gedanken?“
Das Kachimunia zog die Lippen ein wenig über den Zähnen hoch. Das beste, was die Ratte als Grinsen produzieren konnte.
„Darüber reden wir noch!“, sagte Mera und kam sich vor wie ihre eigene Mutter, wenn sie Mera schalt, aber eigentlich gar nicht böse auf sie war.

~

Alle mitgebrachten Netze waren gefüllt. Nach und nach schaffte Mera sie nach oben. Jetzt, da sie den Weg kannte, war es kein Problem für sie, den Pfad auch bei Mondenschein zu laufen. Zuletzt brachte sie noch zwei dünne Stämme mit, die sie von einem umgestürzten Kusstannienbaum geschnitten hatte. Gut, dass ich das Messer mitgenommen habe, dachte Mera. Geschickt band sie die Heister zu einem offenen Dreieck zusammen, das Seil dabei als Auflage dazwischen flechtend. Zuletzt legte sie die Pomselnetze und ihr Schlaftuch darauf und verschnürte auch dieses unverrutschbar.

Mera legte sich die überstehenden Enden der schmalen Seite des Dreiecks über die Schultern, steckte die Arme durch die Schlaufen und zog mit der Schleppe los. Der Weg nach Hause würde mit der zusätzlichen Last lang werden. Je eher sie startete, desto besser.

Der Weg zurück

Schritt um Schritt um Schritt. Mera stapfte mechanisch durch die Nacht. Ihr Körper war jenseits von ‚müde‘ angelangt. Sie schlief im Gehen. Mera wusste, wenn sie Pause machte, würde sie nicht mehr aufstehen können. Pan wachte über sie. Wenn sie von der Richtung abkam, streifte sie ein Flügel oder ein heiseres Knurren weckte sie aus der Agonie und sie korrigierte sich. Sie knabberte die Naselhüsse auf, aß das letzte Stück des harten Knusts, warf Pan den Rest zu. Sie hatten mit den Pomsels mehr als genug zu essen, aber es kam überhaupt nicht infrage, Nahrung wegzutun. Auch wenn es ihnen beinahe die Zähne ausbrach. Das Tuch, in dem Mera die Lebensmittel eingebunden hatte, war nun leer und sie steckte es in eine Tasche ihrer Latzhose. Ein Pomsel aus dem Vorrat brachte kurz ein wenig Energie zurück. Noch einen Schritt, und den nächsten.

Über Stunden wanderte sie so weiter, hielt sich nicht an der Baumgruppe auf – das Material zum Bau einer Hängematte war anderweitig verbaut, ließ auch den Kusstannienbaum hinter sich. Pan musste dort allerdings pausieren, zu lange schon war das Kachimunia in der Luft gewesen. Die roten Augen der Flederratte tränten, es war zu grell in der Mittagszeit. Mera hoffte, das Tier würde sie später finden. Im Laufen sah sie über die Schulter, sah, wie die Ratte sich die rosa Flughäute um den blauen Leib legte, mit der gelben Zunge über das schwarze Gesicht fuhr und sich dann nicht mehr regte. Mera sah aber auch die Schleifspuren, die ihre Schleppe hinterließ und war sich nun sicher, Pan würde sie auf jeden Fall finden. Sie nahm einen weiteren Pomsel aus dem Vorrat. Nur wach bleiben, weiterlaufen.

In der Dämmerung stolperte Mera mehr, als sie noch lief, auf das Ufer des Nebenflusses zu. Das Ufer war zu steil. Sie würde alles umpacken und einzeln hinübertragen müssen. Das würde sie nie und nimmer schaffen. Ihre Beine gaben unter ihr nach und sie setzte sich ans Ufer, die Zuggurte abstreifend. Mera weinte vor Erschöpfung und Frust. Mit dem Tuch aus ihrer Tasche wischte sie über das Gesicht. So kurz vor dem Ziel, dachte sie. Aber sie konnte einfach nicht mehr. Noch mitten im Gedanken kippte sie zur Seite weg und schlief, bevor ihr Kopf den Boden berührte.

Pan fand sie kurze Zeit später. Verzweifelt versuchte em, Mera wach zu bekommen. Was war zu tun? Mutlos saß em neben dem schlafenden Mädchen. Die Ohren der Ratte zuckten. Pan lauschte. Weit weg war ein Geräusch. Rufe. Ein Grollen, das em schon einmal gehört hatte. Das war doch dieses Drachenwesen, das bei Mera gewesen war. Pan schickte die Ratte in die Luft. Zuvor klaubte em das Tuch aus Meras Händen.

Biggi führte die Suchgruppe auf Meras Spur. Brolan verwünschte sich, darauf hätte er schon eher kommen können. Wenn ein Wesen Mera finden konnte, dann das Dorg. Das flauschige Drachentier, das weit voraus gelaufen war, den Suchtrupp mit grollenden Jagdlauten zu sich rufend, lauschte plötzlich in die Nachtluft über ihnen. Flederflügel. Ein Tuch flatterte dem Dorg vor die Schnauze. Meras Geruch! Biggi schnappte nach dem Tuch, aber die Flugratte war damit schon wieder außer Reichweite. Biggi setzte hinterher. Das Fledertier führte sie direkt zu Mera. Das Tuch warf das Kachimunia neben ihr ab. Biggi stupste winselnd an Mera herum. Vergebens. Darum griff sich das Dorg das Tuch, setzte erneut über den Bach und raste zurück zu Brolan.

~

Mera wachte im Bett ihrer Eltern auf. Biggi lag dicht vor der geöffneten Hüttentür, ließ den Blick nicht von Mera. Hanne wischte Mera mit einem feuchten Lappen über das Gesicht. Davon war sie wohl wach geworden.
„Sind die Pomsels…?“, begann Mera zu fragen. Aber Brolan, die Hände tief in einem Kuchenteig, unterbrach sie lachend: „Ja, alle verstaut. Fast alle. Ein paar habe ich unter dem Suchtrupp verteilt.“ Fröhlich pfeifend knetete Brolan weiter. Es würde Pomseltuhrte geben, ahnte Mera und freute sich.

Hanne fragte: „Kannst du aufstehen? Ich wollte dir die Sachen ausziehen und dich waschen, aber du hattest die Hände so sehr in die Latzhose gekrallt…“
Mera öffnete die Fronttasche ihrer Hose und holte das Messer samt Scheide hervor. Brolans Messer. „Es tut mir leid“ sagte sie leise, „ich hatte solche Angst es zu verlieren. Tut mir leid, dass ich es genommen habe.“
Brolan runzelte die Stirn. „Musstest du es gebrauchen, war es hilfreich?“
Mera nickte, ohne ihren Vater anzusehen.
„Dann ist das in Ordnung“, überlegte Brolan. Kurze Zeit später pfiff er wieder die Melodie, die er für das Gespräch unterbrochen hatte.

Hanne half ihr, Hemd und Hose abzulegen. Sie drückte Mera einen Becher mit kaltem Tee in die Hand. Mera trank ihn mit einem Zug leer und gab ihn zurück. Sie schaute zur Tür, die immer noch halb von Biggi blockiert wurde.
„Du kannst ruhig in deine Ecke gehen. Mit mir ist alles in Ordnung“, sagte Mera zum Dorg. Steif stand sie auf. Alle Muskeln brannten. Sie wollte trotzdem zum Brunnen und sich waschen, sie stank. Biggi gab den Weg frei.
Hanne rief ihr, beinahe vorwurfsvoll, hinterher: „Du solltest sie nicht schimpfen. Schließlich war es Biggi, die dich gefunden hat!“
Und dann war sie plötzlich neben Mera, drückte ihr Kind fest an sich: „Mach das nie wieder! Hörst du!“
Mera wollte ihrer Mutter das Versprechen geben. Sie verstand die Sorge dahinter. Aber sie würde trotzdem wieder so handeln, immer. Deshalb sagte Mera nichts. Sie hatte doch nichts falsch gemacht. Ihretwegen würden sie ein paar Semanen lang zu essen haben.

Frisch gewaschen und in sauberer Kleidung saß Mera später am Küchentisch, mampfte mit vollen Backen noch warme Pomseltuhrte – die leckere Variante mit den Streuseln obenauf – und musste sich wieder und wieder die Geschichte ihrer „Rettung“ anhören.
Das Kauen und Zuhören gab Mera Zeit, darüber nachzudenken, was und wie viel sie erzählen wollte, wem sie den Pomselfund eigentlich zu verdanken hatten. Sie beschloss, den Teil mit Pan auszulassen. Tut mir leid, Pan, das würden sie mir nicht glauben, dachte sie. Eine Flugratte, die mit ihr kommunizierte. Sie konnte es ja selber kaum begreifen.

Am nächsten Tag zeichnete sie aus dem Gedächtnis eine Karte und beschrieb jede Einzelheit des Weges, an die sie sich erinnern konnte. Das Wissen um das Tal der Pomselbäume würde nicht nur den Hof retten, das ganze Dorf würde überleben.

Anam Cara 3

Pan hing in der Erlke und ems Gedanken nach. Em versuchte sich daran zu erinnern, was es hieß, ein Plutoran zu sein. Wenn em noch lange allein mit dieser Kreatur verbunden blieb, würde em völlig mit dem Geist des Tieres verschmelzen.
„Der einzige Weg, nicht zum Tier zu werden, ist die Verschmelzung mit einem Menschenwesen.“ hatte ems Schowenga gesagt. „erst, wenn du bewiesen hast, diese geistige Fähigkeit erreicht zu haben, kannst du den Weg zurück in deinen eigenen Körper finden. Und noch so einiges mehr.“
„Schowenga, könnt Ihr mir sagen, was das sein wird?“, hatte Pan gefragt.
„Das wirst du wissen, wenn du eine Bindung eingegangen bist. Finde dein Anam Cara!“

Pan hatte Schwierigkeiten, die Gedanken zu fokussieren. Immer wieder kamen die tierischen, Bildgedanken des Tieres dazwischen. Die Bedürfnisse waren so übermächtig wie simpel. Das Kachimunia wollte schlafen und fressen. Pan kämpfte dagegen an. Em war Plutoran, das wollte – das durfte em nie vergessen. Ems Gedanken verhedderten sich. Das Tier hörte Schritte. Der Mera-Mensch kam. Wir sind so aufgeregt, dachten Pan und die Ratte. In diesem Gedanken waren sie sich einig.

Mera war allein. Biggi hatte noch genug von ihrer gestrigen Suchtour und war nicht einmal aufgewacht, als Mera ihr ein kleines Stück der Tuhrte in den Unterstand gelegt hatte.
Langsam, wegen der schmerzenden Muskeln, dennoch behände, kletterte sie hoch zu Pan. Ein Ast der Erlke war in der richtigen Höhe, dass Mera darauf sitzend mit ihrem Gesicht auf der Höhe von Pans Gesicht war, eine halbe Armlänge entfernt, mit einem anderen Ast an ihrer Seite, an den sie sich entspannt lehnen konnte. Die Ratte hatte sich inzwischen an das Menschenkind gewöhnt. Diese Distanz war erträglich, Pan brauchte sie nicht mehr zu beruhigen. Vielleicht hatten aber auch die mitgebrachten Sorinen etwas damit zu tun, die das Kachimunia ihr aus der Hand leckte.

Vorsichtig streckte Mera die Finger aus, wartete kurz, ob es der Flederratte zu viel würde und weil das nicht der Fall war, kraulte sie dem Tier das Fell.
„Ohne dich hätte ich das nie geschafft, Pan. Ohne dich wüsste niemand von dem Tal der Pomselbäume. Danke!“ Mera drückte ihre Stirn gegen den Kopf des Kachimunias.

Etwas verschob sich. Mera sah Licht. Häuser, die keine Hütten waren. In den Himmel ragten, der Lila und Purpur strahlte. Häuser, Dinge in der Luft, die fliegen konnten, Menschen in langen wehenden Kleidern, im schnellen Wechsel, etwas redete auf sie ein. Es war zu viel. Mera zuckte zurück.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte das Kachimunia sie an. Es öffnete einen Flügel, schob die Flughaut hinter Meras Kopf und zog ihn wieder näher. Mera erinnerte sich an die Geisterstimme am Kraterrand. Zuerst widerstrebend, dann entschlossen, diese Rätsel zu lösen, gab sie dem leichten Druck nach, bis ihre Stirn erneut den Kopf des Tieres berührte.

Diesmal versuchte sie, die fremde Welt zu ignorieren. Ihr Fokus war nun auf der Stimme. Die Stimme formte Worte in ihrem Kopf und es klang beinahe erstaunt, fragend: „Anam Cara? Du? Du bist mein Seelenmensch? Oh, bei der Verschmelzung, ich habe Kontakt! Endlich. Mera. Mera! Fühlst du das?!“
Mera flüsterte leise und unsicher: „Pan…?“
Die Ratte antwortete mit der Geiststimme: „Exakt. Wir sind Pan. Moment… ich bin einfach schon zu lange in diesem Tier. Ich, ich bin Pan. Ja. Oh, stimmt ja, am Pomseltal hatten wir ja auch schon Kontakt, das hatte ich schon wieder vergessen.“
Es folgten ein paar konfuse Bilder und Gedanken, die Mera nicht verstand. Dann schob sich Pans Stimme erneut in den Vordergrund: „Wir könnten unsere Gedanken permanent verschmelzen. Dann können wir uns auf diese Art miteinander unterhalten. Du musst mich danach nicht mal mehr berühren zum Reden. Willst du das?“
Pan verschwieg die Risiken, die für em bestanden, wenn Mera die Verschmelzung ausschlug. Sie sollte sich ohne Zwang entscheiden. Gespannt und sehnsüchtig wartete em.

Mera überlegte, während ihre Hände im blauen Fell der Ratte wühlten. Ihr Kopf war gegen den Kopf des Kachimunias gepresst. Die Flughaut lag um ihren Nacken wie eine schützende Membran. Das Tier roch nach Zimt und ein wenig harzig.
„Wird es weh tun?“, fragte sie probehalber in Gedanken.
„Das weiß ich nicht, es ist meine erste Verschmelzung“, gab Pan ehrlich zu. Entweder hatte em diese Information vergessen oder ems Schowenga hatte em das nie gesagt. „Ich weiß nur, dass die Verschmelzung eine Weile dauern wird.“

„Kannst du aufhören, wenn es nicht funktioniert? Also auch so mittendrin?“, wollte Mera wissen.
Pan durchforstete ems wiedererwachenden Erinnerungen. Dann hatte em die Informationen gefunden, die em suchte. Em bestätigte.
„Dir soll kein Leid geschehen. Wenn es dir zu viel wird, gehe ich aus deinem Geist.“
„Also gut“, sagte Mera schließlich, „aber halt mich gut fest, ich will nicht vom Baum kippen, während wir schmelzen.“

„Es heißt verschmelzen“, sagte Pan und spannte behutsam auch ems zweite Flughaut um Mera. Pan begann die Formeln zu murmeln, die ihre Seelen miteinander verbinden würden. Mit einem kleinen Teil ems Geistes kontrollierte em die Ratte. Ein anderer Teil von sems Konzentration achtete auf Meras Reaktionen. Mit einem panischen Gehirn konnte em nicht verschmelzen.

Es dauerte den halben Vormittag. Pan war behutsam vorgegangen. Ohne Angst hatte Mera sich Pan öffnen können. Ihr Wissen, ihre Gefühle ihre geheimsten Gedanken waren nun Teil von Pan. Em gab ihr zurück was em ausmachte, woher em kam, warum em hier war und wie em in diese ihre Welt gekommen war. Bevor em sich aus ihrem Geist zurückzog, gab em Mera noch das Wissen mit, wie sie sich gedanklich in sich zurückziehen konnte, um nicht immer ems Stimme hören zu müssen. Dieses Wissen hatte em niemand beigebracht, em wusste es einfach plötzlich. Das musste dieses „und mehr“ sein, das ems Schowenga angedeutet hatte.
„Anam Cara“, endete Pan die Verschmelzung.
„Anam Cara“, antwortete Mera. Ihre Seelen waren für immer verbunden.

Aufbruch in die Fremde

Auf den Sommer der schlimmen Dürre folgten lange Mischans einer Regenzeit, die alles nachholte, was in den vergangenen Sonnenkreisen zu wenig war. Es gab Wolkenbrüche, die das Tal der Fosser fluteten. Semanenlang stand alles unter Wasser. Stechende Krabbler krochen aus dem schlammigen Grund. Es roch übelerregend sumpfig. Einzig Biggi schien in ihrem Element und war kaum aus dem Wasser zu bekommen, das nun fast an die Lichtung des Orfe-Hofes heran reichte. Aber die kleinen Flugechsen kehrten endlich in die Wälder zurück. Es gab den Menschen Hoffnung.
Nach der Regenzeit kamen die Blumen. Sie sprossen aus dem Schlamm, den die Überflutungen zurückgelassen hatten. Als die Pomselbäume wieder voller Früchte hingen, Meras dreizehnter Geburtstag wenige Semanen her war, kamen die Ordensschwestern ins Dorf an der Fosser.

Sie waren täglich in der Lernhalle anzutreffen. Schwiegen. Hörten zu. Trafen ihre Auswahl. Die Lehrenden wurden informiert, dass sich in ihrem Lernkreis drei Lernende befanden, die sich als Akolythen eignen könnten. Welch eine Ehre! Der Mondgöttin dienen zu dürfen. Eltern wurden zur Lernhalle einbestellt. Sie hatten ihre Kinder für mindestens einen Sonnenkreis dem Orden zu überlassen. Es gab keine Möglichkeit der Weigerung. Wen die Mondgöttin erwählte, war gesegnet.

Hanne und Brolan kehrten bedrückt aus der Lernhalle zurück. Sie riefen nach Mera, die mit der Versorgung des Kleinviechs beschäftigt war. In der Hütte setzten sie sich an den Tisch am Herd.
„Sie nehmen dich mit. Morgen schon“, platzte Brolan heraus. Hanne schwieg mit zusammengepressten Lippen. Ihre Hand suchte Brolans, drückte sie.
Mera sagte empört: „Warum? Mich haben sie nicht gefragt. Ich will nicht. Ich will hierbleiben.“
Brolan schaute auf den Riss in der Tischplatte. „Es ist nur für einen Sonnenkreis, es ist eine Ehre, der Mondgöttin zu dienen“, wiederholte er die Sätze, die in seinem Kopf widerhallten. Was er dachte, war, sie wollen mir mein Kind wegnehmen, unser Kind. Aber das sagte er nicht laut.

Meras Atmung beschleunigte sich. Pan. Was würde aus Pan? Ihren Feydahn Pietje und Yoralou? Pan schaltete sich in ihre Gedanken ein: ‚Was ist los. Ich spüre, du bist aufgebracht. Keine Panik. Atme. Komm zur Erlke.‘
Mera bestätigte mit einem kurzen Impuls: ‚Später.‘

„Ich will hier nicht weg“, sagte Mera erneut. Aber sie wusste eigentlich schon, dass es keine Alternative gab.
Hanne öffnete den Mund, schloss ihn wieder, die ungesagten Sätze hinunterschluckend. Stattdessen sagte sie: „Yoralou und Pietje sind ebenfalls berufen. Ihr werdet zusammen gehen.“
Mera dachte bitter, als ob es das besser machen würde. Nun, eigentlich war das tatsächlich besser. Sie würde nicht allein gehen müssen. Aber was würde aus Pan…?
Sie sah in die traurigen Gesichter ihrer Eltern. Sie durfte es ihnen nicht noch schwerer machen. Mera schalt sich selbstsüchtig.
Sie sagte: „Also gut. Einen Sonnenkreis. Keinen Tag länger. Dann komme ich zurück. Ich packe nachher meine Sachen.“
Mera stand auf. Die Hütte wurde ihr zu eng, sie musste raus.

Mera rannte, sobald sie die Hütte hinter sich gelassen hatte. Sie rannte an der Erlke vorbei, in Gedanken Pan zurufend: ‚Komm mit‘. Das Kachimunia stieg auf, Pan die Führung überlassend. Am Blumenhang konnte Mera nicht mehr. Sie warf sich in die Wiese und versuchte zu Atem zu kommen. Pan landete in der Kusstannie neben dem Stamm, in dem die WeeBees hausten, hängte sich wie üblich an seinen Füßen auf. Quirlige Flugechsen kamen fiepsend heran geflogen. Sie hofften auf Honigwabenreste. Mera überlegte kurz, ob sie eine Wabenecke aus dem Nest brechen wollte. Sie entschied sich dagegen. Sie war zu aufgewühlt. Keine gesunde Voraussetzung, mit WeeBees zu argumentieren, wenn sie nicht all ihre Sinne beisammen hatte.

Pan schaukelte ungeduldig an seinem Ast, ständig die greifende Füße umsetzend.
‚Was ist denn passiert, Mera?‘, fragte Pan.
Mera öffnete ihren Geist für ihren Anam Cara. ‚Sieh selbst.‘
‚Orden der Mondgöttin?‘, fragte Pan, ‚wo ist denn das?‘
Mera überlegte, was sie in der Lernhalle dazu gehört hatte.
‚Der Tempel des Ordens ist in der Stadt Lunby am Etussischen Meer. Der Monostrom mündet dort. Lunby ist die größte Stadt von Dazel.‘
‚Gibt es dort Kachimunias?‘, fragte Pan.
‚Ich fürchte, eher nicht‘, zweifelte Mera. ‚Die Stadt liegt zu weit nördlich. Ist zu kalt für Flugratten da oben. Wie kann ich Kontakt mit dir halten, Pan? Wie weit reicht die Verschmelzung?‘
Mera sah, was Pan dachte, während em es dachte. In der Theorie sollte die Verschmelzung unbegrenzt funktionieren. Mera hörte, wie Pan sich anstrengte, mit ems Schowenga Kontakt aufzunehmen. Wieder einmal vergebens. Pan versuchte, die Besorgnis vor Mera zu verbergen. Was natürlich innerhalb einer Gedankenverbindung nicht wirklich möglich war. Etwas war noch nicht richtig mit ihrer Verschmelzung, etwas fehlte noch. Pan war ratlos.
‚Ich weiß es nicht, ab welcher Entfernung unsere Verbindung abreißt, oder ob überhaupt. Ich werde mit dir kommen, so nah es mir möglich ist. Dort werde ich warten.‘

~

Im Morgengrauen nahm Mera ihr Bündel. Umarmte Hanne, ging alleine zur Hüttentür hinaus. Hanne blieb zurück. Mera wusste, ihre Mutter konnte nicht anders. Draußen wartete Brolan mit Biggi. Bis zur großen Abzweigung kamen die Beiden noch mit. Mera umarmte auch ihren Vater, wuschelte dem Dorg das Fell und ließ sich von dem Drachengetier mit der Zunge die Tränen aus dem Gesicht lecken. So fiel es nicht auf, dass sie sich mit dem Ärmel das Gesicht abwischen musste. Sie war schon groß. Tränen sind für Kinder, dachte Mera. Den Rest des Weges ging sie alleine weiter. Sie drehte sich nicht um.

An der Lernhalle warteten Pietje und Yoralou. Pietje sah verloren aus. Seine Familie hatte sicher keine Zeit gehabt, ihn zu verabschieden, in der Bäckerei wäre nun zu viel Betrieb. Yoralous Elter ging soeben, in einiger Entfernung sich noch einmal umdrehend und aufmunternd winkend. Yoralou winkte zurück.

Die drei Ordensschwestern, alle drei in lange wehende weiße Umhänge gehüllt, die weiten Kapuzen über die Haare gezogen, warteten an einem offenen Lastenwagen, vor den zwei tiefschwarze Rinnos gespannt waren. Die älteste der Drei schaute missbilligend auf Meras Latzhose. Mera schaute verwirrt an sich hinab. Es war ihre beste Hose. Sauber. Mit einem Gürtel aus verziertem Rinnoleder darüber, den Brolan ihr zum Abschied überreicht hatte. Ihr Hemd, mit ordentlich aufgerollten Ärmeln, war hellblau und rosa kariert und auch frisch gewaschen. Hanne hatte ihr ein neues, gelbes Halstuch dazu umgebunden. Was war falsch?

„Bist du Mera? Im Tempel tragen wir aber Röcke“, näselte die Alte. Unter ihrer Kapuze blitzen schlohweiße Haare hervor. Die mittlere Schwester, eine üppige Frau mit roten Haaren, nickte zustimmend. Mera dachte, aber ich habe doch gar keine Röcke. Wozu auch? Die jüngste Ordensschwester stand einen Schritt hinter den anderen beiden, schaute kurz auf und senkte den Blick wieder zu Boden. Mera hörte sie leise zur Rothaarigen tuscheln: „Oder ist ihr Bruder für sie gekommen? Sie sieht nicht aus wie ein Mädchen.“
„Schscht“, rügte die Alte und befahl: „Steigt auf. Wir fahren sofort los.“
Die blonden Zöpfe der Jüngsten fielen aus ihrer Kapuze, als sie sich hastig umdrehte und auf den Wagen kletterte. Sie wartete oben, um der Ältesten hinauf zu helfen, danach nahm sie das Gepäck der Kinder an, die nun ebenfalls aufstiegen. Als auch die Rothaarige auf dem Wagen war und einen Platz auf den Säcken mit getrockneten Pomselscheiben gefunden hatte, setzte sich die Jüngste ebenfalls. Die Rinnos setzten sich in Bewegung. Mera erkannte im Kutscher den Händler aus dem Nachbarort.

Yoralou und Mera hatten den schmächtigen Pietje in die Mitte genommen. Die drei hatten sich bei den Händen gefasst. Sie saßen am linken Wagenrand, die drei Schwestern ihnen gegenüber auf der rechten Seite. In der Mitte der aufgereihten Säcke war kaum Platz für ihre Füße neben ihrem Gepäck. Noch während der Lastenwagen über den Lernhallenplatz rumpelte, teilte die Schwester mit den Zöpfen den Kindern ungefragt mit, dass im Tempel Jungs und Mädchen getrennt untergebracht sein würden.

Mera grinste in sich hinein. Da wäre ich mal gespannt, wo sie mich unterbringen würden, wenn mein Körper schon weiter wäre. Aus den Augenwinkeln sah sie Pietje und Yoralou ebenfalls feixen und solidarisch zu ihr hinüber blinzeln. Die drei Feydahn hatten im vergangenen Sonnenkreis genügend Zeit gehabt, die Unterschiede ihrer drei Körper zu erkunden. Pietje war ein Junge, Yoralou ein Mädchen und Mera war Mera². Aber das war ihr Geheimnis.

Tief im Wald hing ein nachdenklicher Pan wie üblich kopfüber von einem Ast hoch oben in der Krone. Em hatte das Gefühl, etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Das Kachimunia knurrte unwillig. Es war Morgen und die Ratte wollte endlich schlafen. Pan seufzte gedanklich.

² Näheres zu Meras tatsächlicher Geschlechtsidentität, und worin Mera sich irrt, wird ziemlich am Ende im Kapitel „Entzauberung erklärt.

Lunby

Es war eine stundenlange, eintönige und ermüdende Reise. Die Säcke unter ihnen milderten kaum die Stöße des holpernden Gefährts auf dem unebenen Boden ab. Sie kamen nur langsam voran, pausierten nur, wenn die Rinnos eine Pause brauchten. Alle nutzen dankbar diese Gelegenheiten, sich die Beine zu vertreten oder kurz in den Büschen zu verschwinden. Die Ordensschwestern redeten nicht, oder nur das Nötigste. Unter den wachsamen Augen der Frauen, Mera konnte es nicht genau wissen, vermutete aber, dass die drei Frauen waren, kam auch bei den Jugendlichen keine flüssige Unterhaltung auf. Sie fuhren einer ungewissen Zukunft entgegen, hatten keine Vorstellung, was von ihnen erwartet würde. Zudem wurden die Fragen zu ihrer Zukunft im Tempel, die sie den Schwestern stellten, nur vage, ausweichend oder gar nicht beantwortet. Wenigstens bei der Mittagsmahlzeit, für die sie an einem Rasthof hielten, der Zu den NaddelÖhren hieß, erfuhren die Kinder endlich die Namen der Schwestern.

Die gestrenge Älteste klopfte mit ihrem Essmesser auf den Tisch der Schänke. Die Kinder sahen von ihren Schalen mit honigsesüßtem Kusstannienmus hoch.
„Die korrekte Anrede für Schwestern des Ordens ist: Fey, zusammen mit dem Namen. Ich bin Fey Beliza.“ Sie deutete auf die Rothaarige neben sich: „Dies ist Fey Alrube und hier Falaner, unsere Akolyth.“ Fey Beliza zeigte auf das Blond-zopfige Mädchen.
„Unsere Hohe Zyklania, Mater Lugosvitta, werdet ihr nur ansprechen, wenn sie es euch gestattet. Sie leitet den Tempel und hat Besseres zu tun, als sich mit euch Aspiranzen[g] zu beschäftigen. Habt ihr das verstanden?“
Die Kinder nickten eingeschüchtert ohne wirklich zu verstehen.

Gegen Abend erreichten sie die Anlegestelle einer Handelstation an der Alsaune. Die Säcke wurden auf ein flaches Boot umgeladen. Der Kutscher rumpelte mit den müden Rinnos zu einem Rasthof in der Nähe. Er würde am nächsten Tag mit neuer Ladung für das Dorf die Heimreise antreten. Die Säcke wurden nun unter Aufsicht einer Person vom Handelsposten verladen. Mera hörte, wie der Kutscher sie Fru Zora nannte. Fru Zora trug praktische weite Hosen und ein Hemd mit Weste darüber. Mera stieß Falaner an: „Eine Frau mit Hosen. Oder doch ihr Bruder?“
Falaner wurde ein wenig rot an den Wangen. „Es tut mir leid, was ich am Morgen über dich sagte. Das war nicht in Ordnung“, gab sie zu.
Mera nickte. Damit war das für sie aus der Welt.

Der wortkarge Schiffslenker legte ab, sobald alle Waren und Personen an Bord waren. Auf diesem Frachter gab es keinen Schiffsjungen, die Arbeiten erledigte ein Bootmeisje. Flink kletterte die Helferin des Schiffslenkers an Bord, nachdem sie die Taue gelöst hatte. Mera bewunderte das blaugestreifte Hemd des Mädchens. Der Kahn schob sich in die Strömung, als Yori – so hieß das Bootsmeisje – am kleinen Mast des Kahns das Segeltuch in die Höhe zog. Fru Zora packte überall mit an. Mera vermutete, dass sie oft Fracht auf dem Wasser transportierte und daher mit den notwendigen Handgriffen vertraut war. Mera beobachtete fasziniert die eingespielte Choreografie der beiden Schiffsleute und der Handelsfrau. Für sie selbst war das Gewirr der Taue und Tampen ein einziges heilloses Durcheinander.

Unter der Überdachung am Heck verteilte Falaner auf Geheiß von Fey Alrube Brot aus Naddelsamenmehl und Zigot-Milch. Als Sitzmöglichkeiten waren wieder nur die Säcke der Fracht nutzbar, anderenfalls hätten sie auf dem nackten Boden sitzen müssen. Mera wurde allmählich müde und fragte sich, ob sie auf den Säcken schlafen würden müssen. Yori beantwortete ihre ungestellte Frage, als sie aus einem Kasten neben der Backbordreling etliche Hängematten holte und begann, diese an den Streben des Unterstands zu vertäuen. Die Kinder hatten das Prinzip erfasst und halfen, ihre eigenen Matten aufzuhängen. Nicht lange und alle Passagiere kletterten in die schwankenden Konstruktionen. Es wurde Nacht über dem Fluss.

Eine Weile genoss Mera das leichte Schaukeln des Frachters und das beruhigende Schwingen der Hängematte. Sie lauschte den Wassergeräuschen, die an den Planken des Schiffs entstanden. Ab und zu sprang ein Fisch nach einem Insekt. Große Fische, die silbrig glänzten, mit regenbogenfarbenen Punkten und Streifen auf den irisierenden Schuppen. Sie fragte Yori nach den Namen und diese sagte nach einem kurzen Blick: „Das sind Karaunen. Gibt aber noch Walfinen und Loxflosser.“
Yori hätte wohl noch mehr zu erzählen gewusst, musste aber nun rasch eins der Segel reffen. Sie kletterte mit ihren bloßen Füßen flink wie eine Flugechse auf das Kajütendach und verschwand von dort hinter dem Segeltuch.

Pietje fragte besorgt aus seiner Hängematte an niemand bestimmtes gewandt: „Es wird Nacht, sollten wir nicht besser anlegen, statt in völliger Dunkelheit zu segeln?“
Fru Zora antwortete beruhigend: „Das wird nicht nötig sein. Der Schiffslenker ist sehr erfahren. Und die Alsaune hat ein paar Besonderheiten. Es geht sicher gleich los. Schaut aufs Wasser!“
Und tatsächlich begann das Wasser um sie herum plötzlich blau zu leuchten. Die Kinder staunten mit offenen Mündern. Fru Zora lächelte.

Bevor Mera einschlief, nahm sie noch gedanklichen Kontakt zu Pan auf. Das Kachimunia flatterte ungesehen irgendwo in der Nähe der Alsaune herum, auf der Suche nach Futterbäumen. Pan ließ die Ratte fressen, dann folgten sie dem Frachter, den sie bald wieder eingeholt hatten. Während das Tier fraß, hatte Pan Kapazitäten für die telepathische Übermittlung. Sie berichteten sich gegenseitig von ihren Erlebnissen des Tages. Wobei Pans Kachimunia tagsüber eigentlich nur geschlafen hatte und in der Dämmerung eine lange Zeit nur dem Karren und dem Frachter hinterher geflogen war.

Am Mittag des folgenden Tages mündete die Alsaune in den großen Monostrom. Der kleine Frachter hatte einen zu flachen Kiel für dieses wilde Gewässer. Wieder wurde die Fracht umgeladen. Diesmal auf ein größeres Schiff. Der kleine Frachter würde mit der Rückkehr zum Handelsposten warten müssen, bis der Wind drehte, um die Alsaune aufwärts fahren zu können. An der Alsaune entlang gab es keine Treidelpfade. Yori winkte ihnen beim Abschied zu.
Ein riesiger Frachtkahn lag an der Pier des Hafens, den sie für den Wechsel angesteuert hatten. Hier gab es sogar Kabinen unter Deck und so etwas wie einen Waschraum. Sie würden sich und ihre Kleidung waschen können. Mera wunderte sich, wie die Schwestern es schafften, ihre helle Kleidung auf der Reise nicht zu beschmutzen.

Die drei Ordensschwestern bekamen eine gemeinsame Kabine, Mera und Yoralou schliefen zusammen mit Fru Zora in einer weiteren. Pietje wurde auf Geheiß von Fey Beliza in einem Raum mit dem Schiffsjungen untergebracht. Es war komfortabler auf diesem riesigen Kahn, doch Mera fehlte der freie Ausblick auf das Wasser und das Schaukeln, das bei dem kleinen Boot viel stärker gewesen war, als hier, wo sie nur ruhig dahinglitten. Das Schiff hatte keine Segel und auch keine Ruder. Aber in seinem Inneren stampfte eine Vorrichtung und bewegte Schaufeln an der Außenseite des Kahns. Der Schiffsjunge, der sich die Kabine mit Pietje teilen musste, hatte es ihnen erklärt und gezeigt. Es hatte alles sehr plausibel geklungen. Mera verstand dennoch nicht, wie dieses Wunder funktionieren konnte.

Tagsüber streunten die Kinder auf dem Schiff umher. Die Landschaft hatte sich gewandelt. Mera konnte nicht annähernd sagen, wie weit nach Norden sie inzwischen gekommen waren. Es gab aber immer noch vereinzelt Pomselbäume – Pan würde hiervon gut leben können – und an den Hängen der Flussufer standen lange Reihen von Büschen. Mera hatte davon gehört. Hier wuchsen die Sorinen, die weiter im Süden nur noch getrocknet ankamen. In den schattigen Wäldern im Süden gediehen diese nicht, wuchsen hier im Norden jedoch prächtig auf den Sonnenseiten der Vulkanhänge. Sie fragte sich, wie die Sorinen wohl frisch schmeckten.
Die Flugechsen waren hier um einiges größer als zuhause. Mera glaubte nicht, dass sie sich von Nektar ernährten, wie ihre kleineren Verwandten. Hier hatte Yoralou besser in der Lernhalle aufgepasst: „Die fressen Langgras und das Zeug im Wasser, was so leuchtet. Wenn sie viel davon fressen, bekommen sie Leuchtpickel.“

Am Abend zeigte ihnen Yoralou die glitzernden Echsen, die über das fluoreszierende Wasser glitten. Sie hatten in der Dunkelheit ihre Form verloren, es waren nur noch Wolken von glimmenden Sternenfunken, die mal hierhin und mal dorthin flogen. In der Ferne phosphoreszierten ganze Felder. Pietje meinte, es seien wohl Schwamm-Farmen. Aus den Leuchtschwämmen könnten ganz wunderbare Mahlzeiten gekocht werden, er hatte darüber gelesen. Pietje hatte nun immer einen Block dabei, in den er alles notierte, was ihm wichtig erschien. Den Block hatte er von Fey Alrube bekommen, die im Tempel für das Protokollschreiben zuständig war und ihn dazu ermunterte. Yoralous blauer Haarschopf hingegen war oft hinter einer Schriftrolle verschwunden, aus der sie die verschiedenen Tierarten von Etuss, Dazels Nachbarkontinent, nachlas.

Mera kam sich nutzlos vor. Sie konnte eigentlich gar nichts richtig. Sie fragte sich, warum die Ordensschwestern ausgerechnet sie ausgewählt hatten. Ein paar Flugechsen umkreisten sie. Ohne nachzudenken griff Mera in ihre Tasche, in der immer ein paar von den ungeliebten Sorinen steckten und warf sie den Tieren zu. Bald hatte sie einen ganzen Schwarm um sich herum, einige landeten sogar auf ihrer Schulter. Die Chinsen, die frei auf dem Schiff umher flitzten, um schädliche Krabbler aufzuspüren, folgten ihr ohnehin ständig weitläufig und kamen nun auch gierig trötend herangeflitzt. Fey Beliza und Fey Alrube beobachteten Mera. Sie sahen sich vielsagend an und nickten sich zu.
„Sie ist gesegnet“, behauptete Fey Alrube.

Am Morgen des vierten Tages erreichten sie Lunby.
Die drei Feydahn standen gemeinsam an Deck und staunten nur noch. Nur zu wissen, dass Lunby die größte Stadt des Kontinents war und dann mit eigenen Augen zu sehen, dass es nichts Vergleichbares gab – dazwischen lagen Welten. Yoralou war mit ihrem Elter einmal in der Stadt gewesen, die eine Tagesreise von ihrem Dorf entfernt lag, aber auch sie war nicht auf das gefasst, was sich ihnen im Licht der aufgehenden Sonne zeigte. Unzählige Schiffe in allen Größen fuhren mit ihnen auf dem breiten Monostrom. Sie alle hatten als Ziel den Hafen der Stadt Lunby oder kamen von dort.

Am Ufer entlang standen Häuser. Je näher sie der Stadt kamen, desto größer wurden die Gebäude. In der Ferne sahen sie Wohnblöcke, von denen Pietje meinte, allein in einem davon könne die Bevölkerung eines großen Dorfes untergebracht werden. Und es gab unzählige dieser Wohnblöcke. Mera schwindelte es ein wenig allein bei dem Versuch der Vorstellung, wie viele Menschen dort wohnen mochten.
Ein Wald von Masten ragte vor ihnen im Frachthafen auf. Große Segelschiffe, die nach Etuss hinüberfuhren, groß genug, um im Etussischen Meer zu bestehen. Mera zuckte zusammen. Das Meer! Sie hatte die ganze Zeit auf die prächtigen Schiffe geschaut. Nun realisierte sie, dass hinter der Stadt und dem Hafen nur noch Wasser war. Bis zum Horizont. Bis viele Semanen dahinter. Wenige aus ihrem Dorf hatten je das Meer gesehen. Selbst Pietje war in der Faszination des Anblicks so gefangen, dass er vergaß es aufzuschreiben.

Die Ordensschwestern waren unbemerkt zu ihnen getreten. Mera hörte sie murmeln.
„Gesegnet sei die Mondgöttin Dom“, sagte Fey Beliza. Die anderen Schwestern antworteten: „Gepriesen sei ihr Name!“
Sie schauten weder aufs Meer noch auf die Stadt vor der aufgehenden Sonne. Ihr Blick war auf das andere Ufer im Westen gerichtet. Dort, wo sich das Land von den hohen steilen Klippen der Küste ansteigend im Hinterland zu Hügeln formte.
Pietje stieß Mera und Yoralou an: „Schaut nur. Der Tempel.“
Beschienen vom rötlichen Licht der Morgensonne erhob sich ein strahlendes Bauwerk aus dem Grün der Hügellandschaft. Die Wände mochten sonst rein weiß sein, aber im Licht dieser frühen Stunde erstrahlen sie in einem unwirklichen Rosa.
Auch am Westufer hatte sich die Stadt mit unzähligen Häusern ausgebreitet. Große Häuser, mit Gärten auf den Dächern, Höfen und Anbauten. Der Tempel überragte sie alle.
„Heilige Mondgöttin!“ Mera pfiff durch die Zähne. Und ausnahmsweise wurde sie diesmal nicht für ihr ‚unmädchenhaftes‘ Verhalten von Fey Beliza gerügt.

Im Tempel der Mondgöttin

Vom Schiff aus waren Fahnensignale an den Tempel gesendet worden. Am Westufer würde ein Transportgefährt für sie bereitstehen, hatte Fey Alrube bestätigt, als Fey Beliza danach fragte. Die Kinder hatten schnell gelernt, dass sie unauffällig die Ohren spitzen mussten, wenn sie etwas erfahren wollten. Die sechs Reisenden hatten nicht viel Gepäck und standen an Deck bereit, als der Kahn anlegte.

„Macht’s gut und passt auf euch auf“, rief ihnen Fru Zora nach. Hintereinander stiegen die Schwestern und die drei Feydahn mit ihren Gepäckbündeln die Planken hinab, die ihnen die Seeleute über den Spalt vom Kahn hinüber zum Hafenbecken gelegt hatten. Mera drehte sich noch einmal um und befahl den Chinsen, die ihr nachlaufen wollten, an Bord zu bleiben.

Am Pier blieb die Gruppe stehen und orientierte sich. Fey Beliza ermahnte: „Bleibt zusammen!“
Die Kinder drängten sich auch ohne diese Aufforderung dicht aneinander und sahen sich mit großen Augen um. Fuhrwerke mit Rinnos wurden in zwei Reihen neben den Frachtkahn gefahren. Seeleute eilten mit Säcken und Fässern über die Planken, oder reichten in einer Menschenkette das Frachtgut weiter. Mehrere Handelstreibende und ihre Gehilfen sortierten oder suchten ihre Waren. Es wurden Namen gerufen, Ortsangaben und Mengen. Von fahrenden Garküchen wurden Speisen angepriesen. Die Essensdünste mischten sich mit dem Geruch des Brackwassers. Maritime Flugechsen umkreisten das Szenario, hofften auf Reste oder Unvorsichtige.

Falaner hatte auf einem Anschlag nachgesehen, wann die nächste Fähre über den Monostrom fahren würde und von welchem Pier. Die Akolyth griff Mera bei der Hand, die ihrerseits Pietjes Hand gegriffen hatte und der wiederum Yoralou mit sich zog. Fey Beliza übernahm die Führung.

Als die Fähre am Westufer anlegte, fuhr gerade die Kutsche des Tempels vor. Die Tiere, die davor angespannt waren, hatten Mera und Pietje noch nie gesehen. Yoralou wusste aus ihren Schriftrollen, dass es sich um Stulliche handelte. Die Tiere hatten große Köpfe mit langen weißen Haaren, die sich am Hals scheitelten. Das Fell mit bunten Streifen sah aus, als wäre es ein Regenbogen, der zu Flausch geworden war. Die Ordensfrau, die dem Kutschbock entstieg, grüßte Fey Beliza mit der Formel des Tempels: „Gesegnet sei die Mondgöttin. Willkommen zurück, Fey Beliza.“
„Gepriesen sei ihr Name!“, entgegnete diese. „Fey Efauna! Ihr seid wieder wohlauf. Wie schön.“
„In der Tat, der Biss ist gut verheilt, Dank Fey Eskulappias Geschick“ bestätigte Fey Efauna.

Yoralou war indes vor die Stulliche getreten und hob die Hand, um eines der Tiere über den Kopf zu streicheln. Doch nicht frontal, du musst seitlich am Hals streicheln, dachte Mera, die sich beinahe wunderte, woher sie dies wusste, und wollte Yoralou zurückrufen, als auch schon Fey Efauna einschritt. „Nicht anfassen, die Biester beißen!“
Yoralou zog hastig ihren Arm zurück. Kräftige Kiefer schnappten nach der Stelle, an der ihre Finger eben noch gewesen waren. Etwas blass kam das Mädchen zurück zur Gruppe und stieg mit den anderen auf den Wagen.

Fey Efauna kletterte auf ihren Kutschbock und nahm die Zügel auf. Sie begann eine seltsame Tonfolge zu summen, die sich zu einem wiehernden Geräusch steigerte. Mera kam es so vor als schienen die Tiere eher vor dem Gesang flüchten zu wollen, als diese Töne als Befehl zum Antraben zu verstehen.

Ein unirdischer Schrei hallte in der Luft über ihnen und echote durch die anliegenden Straßen. Mera und ihre Feydahn schauten hoch.
„Ist das…?“, begann Pietje, vergaß aber, den Satz zu beenden.
„Ja“, sagte Fey Beliza, „das, mein Junge, war ein Drache.“
Sie sahen dem riesigen Tier nach, bis es im Dunst in der Ferne mit den Wolken verschmolz.

Mera beugte sich zu Yoralou hinüber: „Weißt du, was die so fressen?“
Sie dachte an Pan und ob der Drache vielleicht nicht vegetarisch lebte, wie die kleineren Verwandten, die Flugechsen, die mit Nektar und Obst zufrieden waren.
Yoralou meinte, darüber habe sie noch nichts gelesen, suchte in ihrem Bündel nach der richtigen Rolle, breitete sie aus und las den Abschnitt über die Drachen von Etuss.
„Hier steht, dass sie ausschließlich norische Nierenbohnen fressen, die nur hier wachsen, dafür ganzjährig, in der Nähe von Vulkanen. Deshalb kommen Drachen auch nur in dieser Gegend und im Norden von Etuss vor.“
Mera war beruhigt. Sie würde Pan am Abend sehr viel zu erzählen haben. Sie lauschte kurz in die Verschmelzung. Ihr Anam Cara schlief tief und fest. Neugierig sah sie sich um.

Sie ließen das Hafenviertel hinter sich und kamen nun in eine Gegend, die von vielen eng aneinander stehenden Häusern geprägt war. Oft hatten die bunt bemalten Häuser einen Anbau, in dem Handwerkliches gearbeitet wurde. Die Tore standen weit offen und die Vorübergehenden konnten den Handwerkenden bei der Arbeit zusehen oder direkt aus der Werkstatt Dinge kaufen.

Nichtsdestotrotz waren die Straßen breit und geräumig. Und es war überall grün. An der Straße wuchsen Huller-Büsche, Obstbäume, in deren Schatten die Menschen geschäftig oder schlendernd liefen. Die meisten Häuser hatten Vorgärten mit üppig wuchernden Blumen darin. Es gab Dachterrassen, von denen Gewächse hinunter hingen.
Über den Straßen waren Brücken gebaut. Viele Brücken, denn es gab ein zweites Wegenetz in diesem Viertel. Zahllose tief liegende Kanäle verbanden diesen Teil der Stadt mit dem Hafenviertel. Falaner erklärte, mit ausdrücklicher Billigung von Fey Beliza, dass während der Regenzeit die Straßen hier unten manchmal überflutet wären, durch die Kanäle blieben die Häuser jedoch erreichbar. Mera fiel erst jetzt auf, dass die Straßen tiefer lagen als die Häuser und diese alle Treppen hatten, deren Stufen zu höher liegenden Eingängen führten, die schmal und zudem einfach zu verbarrikadieren waren.

Allmählich ging die Hauptstraße in eine leichte Steigung über. An der Hügelseite der Stadt waren die Häuser größer, mit mehr Platz dazwischen. Auch hier überall Gärten und Bäume. Mera sah, wie Pietje seinen Block mit hastig hingeworfenen Zeichnungen und Notizen füllte. Jetzt skizzierte er ein Gebilde, das sie gerade passierten und Pietje fragte Falaner, ob das ein Spring-Brunnen sei. Mera reckte den Hals. Sie kannte Brunnen nur als Löcher im Erdboden mit einer Einfassung oben und Eimer zum Schöpfen. Dies sah nur annähernd so aus. Es gab wohl eine niedrige Einfassung. Aber keine Tiefe darunter. In der Mitte war eine Steinfigur, einem Rinno nachempfunden, aus dessen Euter ein steter Wasserstrom floss. Gespeist wurde der Brunnen durch ein Aquädukt.

Falaner sagte: „Auf dieser Seite der Stadt gibt es ein System von Wasserleitungen, in denen Quellwasser aus den Bergen bis hierher geleitet wird. Es gibt viele Brunnen dieser Art.“
Mera fragte: „Und die Leute waschen sich auf der Straße?“
„Aber nein“, kicherte Falaner, was ihr einen rügenden Blick von Fey Alrube einbrachte. „Die meisten großen Häuser hier oben haben eine eigene Leitung. Das leicht verschmutzte Wasser vom Waschen wird in Rieselfeldern gesammelt und geht gereinigt in den Fluss oder in die Gemüsehallen. Aber es gibt auch große Badehäuser, weiter oben am Berg, wo es heiße Quellen gibt.“

Pietje schrieb mit, so schnell er konnte. Bei Badehaus, Gemüsehalle und heißen Quellen setzte er Fragezeichen dahinter, wie Mera sehen konnte, die neben ihm saß. Jede Erklärung von Falaner brachte neue Fragen auf.
Die Menschen, an denen die offene Kutsche vorüberfuhr, grüßten ehrerbietig, wenn sie die Ordensschwestern erkannten. Sie legten dazu zwei Finger der rechten Hand an ihre linke Brust. Das Zeichen der Göttin. Aber das würden Mera und ihre Feydahn erst später erfahren. Jetzt waren sie damit beschäftigt, all die Wunder in sich aufzunehmen.

~

Und dann plötzlich war die Sicht auf den Tempel frei und ungehindert möglich, kein Gebäude stand mehr in ihrem Weg. Die große Fläche vor dem Gebäude war ein Park voller Blumen und Kräuter. Dazwischen standen langgestreckt flache Häuser, die teils durchsichtig zu sein schienen. Falaner zeigte darauf. „Das sind unsere Gemüsehallen.“
Pietje fragte neugierig: „Woraus sind sie gebaut? Ist das Glas?“
„Teilweise. Der Rest ist Mondkristall“, sagte Falaner.
„Mondkristall?“ Mera kannte nur die kleinen Butzen-Scheiben, die aus Glas hergestellt und mit Blei eingefasst wurden. Wie die Hüttenfenster des Orfe-Hofes.
Falaner nickte. „Ja, Mondkristall. Der wird in den Mondbergen abgebaut.“
Mera hatte keine Vorstellung, wie aus steinigem Geröll etwas Durchsichtiges, Flaches werden konnte. Diese Stadt war voller Wunder.

Die Stulliche zogen nun zügiger, obwohl sie fast die ganze Zeit hügelan gelaufen waren und eigentlich müde sein mussten. Mera vermutete, dass sie dringend in ihren Stall, oder auf die Wiese wollten und sich deshalb eilten.
Hoch ragte der Tempel vor ihnen auf, als sie durch das Tor der kleinen Mauer fuhren, die mehr Schmuckcharakter hatte, als irgendetwas abwehren zu können. Das Rosa des Morgenlichts hatte tatsächlich getäuscht – der Tempel war aus weißem Stein erbaut. Die polierten Flächen schienen nun das Blau des Himmels zu spiegeln. Falaner verriet, dass der Tempel nachts im Licht der zwei vollen Monde beinahe magisch glänzen würde. Zwei silbrig schimmernde Obelisken säumten das doppeltürige Portal. Sie fuhren jedoch weiter, zu einem Nebeneingang des Tempels..

Die Reisenden stiegen ab, ihr Gepäck mitnehmend. Fey Efauna kutschierte weiter zu den Wirtschaftsgebäuden, weiter hinten im Tempelbezirk. Aus dem Nebeneingang traten mehrere Akolythen, erkennbar an ihren grauen Stirnbändern und den grauen Gewändern. Falaner, die auch ein solches Band über ihren Zöpfen trug, hatte es den Kindern erst vor Kurzem erklärt. Mera hatte das Band bislang für einen normalen Haarschmuck gehalten. Nun begann sie, stärker auf Kleinigkeiten zu achten. Die zwei Federn, die mit weißem Garn auf den weißen Stoff des Umhangs von Fey Alrube gestickt waren, zum Beispiel. Die Feder galt als Symbol für das Schreiben, Fey Alrube leitete das Archiv des Tempels. An Fey Belizas Ärmel waren zwei Monde aufgestickt. Mera vermutete, dies sei ein Rangabzeichen, weil Fey Beliza die Vertretung der Hohen Zyklania war.

Fey Beliza nickte ihnen knapp zu und ging ins Innere des Tempels, um Mater Lugosvitta umgehend einen ersten mündlichen Bericht zu erstatten. Ein Akolyth, der ihr Gepäck aufgenommen hatte, folge ihr auf dem Fuß.
Fey Alrube erklärte den Kindern, dass ihnen je ein Akolyth zugeteilt war, der sich von nun an als eine Art großes Geschwister um sie kümmern würde. Sie warf einen Blick auf Mera und Falaner, die dicht beieinander standen. „Ihr zwei, Giswestar und Aspiranz“, bestimmte sie.
Falaner wisperte Mera hastig zu: „Aspiranz bedeutet Akolyth-Anwärter, ein Giswestar ist ein Akolyth, der Aspiranzen betreut, die Giswestar-Gruppe betreut alle neuen Aspiranzen einen Sonnenkreis lang.“
Yoralou bekam eine Akolyth namens Benra zugeteilt. Benra hatte ebenfalls wie Yoralou blaues Haar, sie trug dieses jedoch sehr kurz.

Filip hieß der Akolyth, der Pietje betreuen sollte. Neben Filip wirkte der schmächtige Pietje noch kleiner als er ohnehin war, Filip überragte ihn um fast einen Kopf. Der Junge hatte ein so breites Kreuz und gewaltige Muskeln an den Armen, die sich unter dem dünnen Stoff seiner grauen Kleidung abzeichneten, dass Mera vermutete, er habe bisher als Schmied oder Müller, auf jeden Fall aber hart körperlich gearbeitet. Fey Alrube sagte zu Filip mit erstaunlich sanfter Stimme: „Das ist Pietje. Kannst du bitte auf ihn Acht geben, Filip. Möchtest du sein Beschützer, sein großer Bruder sein?“
Filip runzelte die Stirn schien ernsthaft zu überlegen, dann strahlte er Pietje an. „Ja. Kleiner Bruder Pietje“, sagte Filip. Und wiederholte: „Kleiner Bruder Pietje.“

An die Akolythen gewandt sagte Fey Alrube: „Ihr wisst, was ihr zu tun habt?“
Sie ließ es nicht wie eine Frage klingen und erwartete keine Antwort auf ihre Anweisung. Die letzte Akolyth, die noch vor der Tür stand, griff sich das Gepäckbündel der Fey, schulterte es und folge Fey Alrube ins Innere. Benra und Filip gingen mit ihren Schützlingen ebenfalls hinein. Falaner nahm Meras Hand als alle außer Sicht waren. „Wir gehen zunächst ins Dormitorium für die weiblichen Aspiranzen. Pietje wird im Dormitorium der Jungen untergebracht.“
Mera ärgerte sich: „Warum wird das denn getrennt?“
„Na, das geht doch nicht, dass Jungen und Mädchen in einem Raum schlafen“, sagte Falaner mit einer erhobenen Augenbraue. Das hatte ja schon auf ihrer Reise begonnen, dass Pietje von ihnen separiert wurde. Mera erinnerte sich an die Übernachtung und das gemeinsame Kuscheln, damals im Langgras der Scheune. Was war daran falsch gewesen? Sie wurde aus ihrer Überlegung gerissen, als sie den Schlafsaal der Mädchen erreichten. Falaner ließ ihre Hand vor der Tür wieder los. Auch das wunderte Mera.

An die 20 Betten standen an einer Wand aufgereiht, die Kopfenden jeweils unter einem der Fenster. An jedem Fußende befand sich eine Truhe. Neben jedem Bett stand ein Tisch mit einem Stuhl. An der gegenüberliegenden Wand, den Gang entlang, hingen Wandteppiche mit Bildmotiven. Mera würde sie sich später genauer anschauen. Ansonsten war der Raum karg und leer. Yoralou legte soeben ihr Bündel in eine der Kisten in der Mitte der Bettreihe. Ihr Akolyth Benra saß auf dem Bett daneben.
An manchen Tischen saßen Akolythen oder Anwärter und schienen zu lesen, oder schrieben. Einige zogen sich gerade um. Alle hatten aufgesehen, als die neuen Anwärter herein gekommen waren.
Falaner rief in den Raum hinein: „Das ist Mera“, und leiser an Mera gewandt: „mein Bett steht ganz hinten, du hast das Bett neben meinem.“ Die Mädchen, an denen sie vorbei gingen, murmelten begrüßend „Seid gesegnet“
Meras Bett stand ganz an der Wand des Raumes. Sie fand es beruhigend, dass sie so nur von einer Seite ein anderes Bett neben sich hatte und nebenan Falaner schlafen würde, die sie ja schon ein wenig kannte, also keine ganz fremde Person sein würde.

Das Bett war eine Konstruktion aus dünnen Hölzern, die mit einem Geflecht aus breiten Pflanzenfasern bespannt waren. Darauf lag eine Matratze aus Langgras und ein doppeltes Tuch, in das flauschiges Dorg-Haar eingenäht war. Als Kissen lagen Rollen auf den Betten, die aus aufgewickeltem Seetang gemacht wurden und in einer Hülle aus Tuch steckten. Mera probierte das Bett gleich aus. Es war kein Vergleich zu ihrem Bett daheim, das nur aus einer Langgrasmatte auf den Bohlen des Dachbodens und einem leichten Tuch bestanden hatte. Nun sah sie, dass die Decke über dem Schlafsaal aus kunstvoll verzierten Kuppeln bestand.
„Das wird hier nicht gern gesehen, dass tagsüber im Bett gelegen wird“, warnte sie Falaner. „Komm, ich zeige dir den Waschraum.“

Der Waschraum war gleich anschließend an das Dormitorium durch eine weitere Tür zu erreichen. Mera sah etliche Waschplätze in der Mitte, mit Zubern, Borden und einem Abfluss im Boden, der zur hinteren Wand führte. Dort war eine weitere Tür, durch die man zu den Aborten in einem abgetrennten Gebäudeteil gelangte. Falaner erklärte ihr auch diesen Raum. Nach vorn offene Kabinen mit Trennwänden, die ein wenig Privatsphäre garantierten, wenn ein Vorhang, der an einer Stange zwischen den Wänden hing, zugezogen wurde. Unter den Sitzbänken darin, die jeweils ein rundes Loch in der Sitzfläche besaßen, befanden sich mit Torf gefüllte Jauchegruben. Falaner zeigte Mera, wie sie nach Erledigung ihrer körperlichen Bedürfnisse mittels einer kleinen Schaufel weiteren Torf in das Loch schaufeln konnte.
„Das verhindert die schlimmsten Gerüche. Einmal im Sonnenkreis wird die Grube geleert und der Inhalt kommt als Mist in die Gärten.“
Es roch tatsächlich erstaunlich wenig, fand Mera, dafür, dass sich hier so viele Menschen erleichterten.

Inzwischen war es bald Mittag und die Akolythen geleiteten ihre Schützlinge in den Speisesaal. Zuvor hatte es noch einen ziemlichen Aufstand gegeben, weil Mera nach dem Waschen die Absicht hatte, wieder in ihre gewohnte Kleidung zu steigen. Sie hatte schon eine Ersatzhose und ein neues Hemd aus ihrem Bündel geangelt, als Falaner mit einem Stapel Röcken und Blusen zu ihr trat. Es war nicht die Farbe Schwarz, die hier alle Anwärter trugen, zusammen mit dem schwarzen Stirnband, die Mera so aufregte. Sie durfte keine Hosen tragen. Das ging gar nicht. Sie hatte noch nie Röcke angezogen. Falaner hatte sie mit viel Zureden endlich überzeugen können, es zumindest erst einmal zu versuchen. Es gab gleich Essen, und wenn sie dort nicht im vorgeschriebener Kleidung erschien, würde sie nichts bekommen.

Mera fühlte sich erpresst, fügte sich aber murrend. Vielleicht auch ein wenig, weil Falaner ihr bewundernd sagte, wie sehr ihr die schwarze Kleidung stand und mit Meras schwarzen Haaren harmonierte, Rock hin oder her.
Der Trägerrock war im oberen Bereich wie eine Latzhose geschnitten, aber nur an den Schultern, unten um die Beine herum fand Mera es unerträglich zugig. Der Rock ging zwar bis über die Knie, schwang beim Gehen aber irgendwie unkontrolliert und war immer ein wenig im Weg. Es gab lediglich zwei flache versteckte Taschen. Mera hasste es. Als Oberteil zog Mera eine engere Bluse unter dem Trägerkleid an. Zu der Grundausstattung gehörte noch ein Kapuzenmantel, der jedoch nur draußen getragen wurde, wenn es kalt war, oder wenn der Tempelbezirk verlassen wurde. Ihre gewohnte Kleidung, Hemd und Hose und Halstuch, die sie auf der Reise getragen hatte, legte sie auf der Truhe ab, um sie später zu waschen. Den Gürtel legte sie hinein.

Mera fiel auf, dass alle anderen Akolythen graue Kleidung trugen, nur Falaner weiße Kleidung zu ihrem grauen Stirnband anhatte und fragte Falaner danach.
„Ich habe schon zwei von drei Prüfungen hinter mir und vor der Mondgöttin bereits das Gelöbnis gegeben“, meinte diese. „Ich bin daher noch keine Fey, sonst hätte ich schon meine eigene Kammer.“
Falaner sah Mera vielsagend an, als wolle sie noch etwas intimes hinzufügen, schwieg jedoch. Sie griff nur wieder nach Meras Hand, verschränkte ihre Finger mit Meras und ließ sie erst los, als sie den Speisesaal betraten. Es kam Mera irgendwie verschämt vor.

Der Saal war groß. Die Mitglieder der Tempelleitung saßen etwas abseits, Akolythen in grauer Kleidung umschwirrten die Tische und bedienten die dort sitzenden Fey. Daran anschließend saßen die gewöhnlichen Ordensschwestern, weiter unten die Akolythen, die keinen Dienst hatten und ihnen gegenüber waren ihre Aspiranzen und die Neulinge wie Mera und Yoralou untergebracht. An diesen Tischen bedienten Aspiranzen, die Küchen-Dienst hatten.

„Die Küche zeige ich dir nachher“, meinte Falaner, „setz dich erst mal und iss.“ Wieder war Mera dankbar einen Außenplatz zu haben. Von ihrer Position konnte sie zum entfernten Tisch der Tempelleitung hinüber sehen. „Welche von denen ist die Mater?“, flüsterte sie Falaner zu.
„Das ist die mit der silbernen Kette“ flüsterte Falaner zurück. Der Tisch war zu weit weg, um Einzelheiten zu erkennen. Mera konnte nicht sagen, in welchem Alter die Hohe Zyklania sein mochte. Die weißen Haare konnten ebenso gut die einer alten Frau sein oder die weißblonden einer jungen.

Jemand stellte Schalen mit knusprigen Würzeln und Kosenrohl in käsiger Soße auf ihren Tisch. Statt Botterstollen gab es lila Knollen, die Botter wurde auf einem Extrateller dazu gestellt. Bräunliche salzige Blätterstücke in einer leicht sauren Soße vervollständigten das Mittagsmahl. Falaner bezeichnete sie als Algen, die im Meer geerntet würden. Langsam kehrte Ruhe im Saal ein, als an allen Tischen auch Teller, Besteck und Tücher verteilt waren. Niemand langte zu, bemerkte Mera und hielt sich ebenfalls zurück.

Als es ganz still geworden war, erhob sich Mater Lugosvitta. Die Hohe Zyklania begann leise zu singen. Es war ein Dankeslied an die Mondgöttin. Die Stimme der Mater wurde allmählich lauter, erfüllte nun den gesamten Raum des Saals. Eine Flöte fiel behutsam ein. Mera bekam eine Gänsehaut, die ihre Arme hinauflief und über die Kopfhaut strich und den Nacken hinab. Etwas zog sich in ihrer Brust zusammen. So etwas wundervolles hatte sie noch nie im Leben je gehört. Als die Mater ihren Gesang beendet hatte und sich wieder setzte, rannen Mera stille Tränen über die Wangen.
Falaner sagte leise: „Ja, so war es beim ersten Mal auch bei mir.“

Regeln und Brechen

Nach dem Mahl zeigte Falaner ihr den gesamten Tempelbereich. Das Gebäude hatte riesige Ausmaße. Im Geviert waren Wohnquartiere, Lernräume, Lesehallen und Wirtschaftsräume um einen gewaltigen Innenhof platziert. Von allen Seiten führten Pfade zum Mittelpunkt des Hofes, der eigentlich auch ein Garten war. Die Pfade trafen dort auf einen Ringweg.

Der Kreis schloss einen Brunnen der Mondgöttin Dom ein, der exakt im Mittelpunkt des Komplexes stand. Falaner und Mera umrundeten das Kunstwerk mehrfach. In der Mitte der Wasserkunst lag hoch oben eine nackte rundliche Göttergestalt aus weißem Stein rücklings auf einer Art gewölbtem steinernen Katafalk, mit durchgedrücktem Rücken. Sie hatte in anmutiger Haltung den Kopf leicht zu Seite geneigt. Mit den Händen stützte sie ihre Brüste, aus denen im Strahl ununterbrochen Ströme von Wasser flossen. Seitlich unterhalb duckten sich in halb liegender Stellung zwei erregte Wesen, die Phob und Deim darstellten. Die Münder weit aufgerissen, als ob sie versuchten das Nass aus den Brüsten zu erhaschen, die Füße der Göttin dabei mit den Schultern stützend. Auch zwischen den Beinen Doms floss ein steter Strom Wasser hervor. Die hohe Umrandung war Stein gewordene Fauna und Flora der Welt Arsadun. Im Wasser des Beckens tummelten sich bunte Fische.

Falaner begann eine Erklärung der Szene: „Das ist die Mondgöttin Dom, gepriesen sei ihr Name. Sie ist die Mutter, die Leben gibt, den Überfluss und die Fruchtbarkeit. Die Göttin, die den Zyklus unser aller Schwestern bestimmt. Die Monde Deim und Phob sind ihre Gefährten. Dom ist deren gestrenge Herrin, die ihnen befiehlt – und sie gehorchen. Doch zu gewissen Zeiten dient sie beiden in Lust und Hingabe, unterwirft sich ihnen freiwillig. Sie allein regelt die Mondphasen, zwei in jedem Zyklus. Sie ist das Zweigeteilte in uns. Sie ist rein wie das Licht der Sonne, das nachts die Monde zum Strahlen bringt. Sie ist stark wie das Meer und die Tiden.“
Falaner verbeugte sich leicht vor der im Sonnenlicht gleißenden Gottheit.

Mera hörte zu aber sie verstand nicht die Hälfte von dem was Falaner sagte. Die Göttin war schön und zugleich beängstigend. Dieser ekstatische Gesichtsausdruck auf dem Gesicht, den die kunstschaffende Person eingefangen hatte, berührte etwas in Mera. Sie konnte es nicht in Worte fassen.
Falaner schien ihre Gedanken zu erraten: „Wenn du in einem Sonnenkreis hier steht, wirst du alles darüber wissen.“
Ja, dachte Mera, ein Sonnenkreis – und keinen Tag länger.

Die Gärten zu sehen verschoben sie auf ein andermal. Das wäre ohnehin etwas, das Tage, wenn nicht Semanen Zeit bräuchte, um alles zu erkunden und zu verstehen. Sie hatte genügend Mischans Zeit, bis der Sonnenkreis um war. Mera zog es zu den Ställen. Falaner hatte ihr erzählt, Teile des Mondtempelgartens wären ein Park der Tiere. Auf ihrem Weg in diesen Bereich kamen ihnen Yoralou und Benra entgegen, die ihre Tempeltour gleich dort begonnen hatten.
Yoralou rief schon von Weitem: „Mera, das musst du dir unbedingt ansehen!“
„Genau das haben wir vor“, entgegnete Mera. So enthusiastisch kannte sie ihre Feydahn gar nicht. Sie sieht wunderschön in schwarz aus, es harmoniert mit den langen dunkelblauen Haaren, dachte Mera. Benra zog Yoralou weiter, sie hatten die Tempeltour noch vor sich und bald würde die Abenddämmerung einsetzen.

Im Stallbezirk zog Falaner ihre Aspiranz zuerst zur große Volliere mit den Nachtsauriern. „Das sind Keuler, die Lieblingstiere der Mondgöttin.“
Mera schaute neugierig auf die beiden winzigen gefiederten Flugsaurier, die nur verschlafen auf ihren Stangen sitzend blinzelten.
„Sie gehen nachts auf die Jagd. Sie ernähren sich von Blut. Meist beißen sie Rinnos. Aber auch manchmal Menschen, diese gelten danach als gesegnet von der Mondgöttin selbst. Der Biss tut nicht weh und sie nehmen wirklich nur kleinste Mengen.“
Mera sah nadelspitze Zähnchen, als eins der Tierchen gähnte.
Falaner zog ihre Bluse am Hals etwas nach unten: „Schau mal, siehst du die Stelle? Damit wird der Blutpakt mit der Göttin besiegelt, wenn die Aspiranzzeit in Akolythentum übergeht. Die kleine Hunin war das“, sagte Falaner und deutete lächelnd auf eins der Tiere.
Mera dachte bei sich: Na, ich weiß ja nicht.

Sie gingen weiter durch die Stallungen und weitläufigen Gehege. Mera kam es vor, als sei die gesamte Fauna Arsaduns hier versammelt. Sogar ein kleines Kachimunia hing in einem Pomselbaum. Obwohl das Fluggehege beachtliche Ausmaße hatte, war Mera doch ein wenig traurig, die Flederratte eingesperrt zu sehen. Das Tier hatte ihnen den Rücken zugekehrt und sah sehr schlafend aus, doch Mera erkannte an den zuckenden Ohren, dass es sehr wohl wach war.

Zuletzt besuchten sie die Stulliche. Sie wurden soeben von Fey Efauna von der Wiese geholt und in den Stall gebracht. Ein Rudel Zigots folgte von sich aus, denn sie wussten, drinnen würde es für alle salzige Sorinenkekse geben.
„Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen die beiden hier zu bürsten“, bot Fey Efauna an. Sie zeigte Mera, wo die Pflegewerkzeuge lagen und band die Stulliche sehr kurz mit Halftern an eine dafür vorgesehene Stange.
„Fangt aber noch nicht ohne mich an, ich muss noch einen Eimer mit getrockneten Klunken holen“, sagte die Hüterin des Tiergartens streng und eilte hinaus.

Eins der Stulliche wirkte sehr nervös. Es verdrehte die Augen und kaute Luft. Mera ging langsam an das Tier heran, strich es über den Hals, bis es nicht mehr mit den Hufen aufstampfte. „Ah, ich sehe dein Problem“, flüsterte Mera. Sie zog ihr Hemd aus und legte es über die Augen des Stullichs. Beim Pflegewerkzeug lag eine Art Zange. Mera nahm sie, redete leise mit dem Stullich, streichelte Hals und Kopf entlang, bis sie an den Nüstern angekommen war und legte ihre Hand darauf. Wie wunderbar samtig weich sich das anfasste, dachte Mera. Mit dem Daumen schob sie die Haut am Maul nach oben, das Tier ließ es zu. Und schon hatte Mera mit der Zange das Aststück gepackt, dass sich dort zwischen den Zähnen verkeilt hatte und zog es heraus.
Das Tier gab einen seufzenden Laut von sich. Mera nahm ihre Bluse wieder an sich und wollte sie mit der Zange beiseite legen, als sie beinahe gegen Fey Efauna stieß, die unbemerkt hinter sie getreten war und nun erschrocken die Hand vor den Mund hielt.

„Wie hast du das denn hinbekommen?“ Die Fey und Falaner schauten Mera ungläubig an. „Das ist Ponhi, das ungestümste Tier im Stall, das lässt sich kaum am Kopf berühren, geschweige denn ins Maul schauen.“
Mera verstand die Aufregung nicht. „Es hatte Schmerzen, da musste ich doch helfen.“
Sie legte endlich die Zange beiseite, wie sie es hatte tun wollen, bevor sie von Fey Efauna unterbrochen worden war, hängte die Bluse an einen Haken und begann das Regenbogenfell des Stullichs zu putzen. Das Auskratzen der Hufe ließ sie sich allerdings zunächst von Falaner zeigen und merkte sich, wie es richtig gemacht wurde. Fey Efauna hatte inzwischen die Sorinenkekse und Salz-Klunken in den Futtertrögen ausgelegt und mit getrocknetem Langgras aufgefüllt.

Die Stulliche waren fertig geputzt. Fey Efauna sagte zu Mera: „Dann bring doch Ponhi mal in seine Box da drüben.“ Falaner wollte erschrocken widersprechen, wurde aber – von Mera unbemerkt – mit einer Geste daran gehindert.
Mera kraulte soeben dem Tier den Widerrist, nickte, und band Ponhi los. Sie drehte sich um, den Führstrick in der Hand und ging in Richtung Box. Das Stullich folgte ihr ohne zu zögern. „Du bist ja ein ganz braves Ponhi“, lobte Mera das Tier, während sie das Halfter abnahm. Ponhi blies warmen Atem aus den Nüstern in Meras Gesicht und wandte sich dem gefüllten Trog zu.

„Hattest du schon einmal mit diesen Tieren zu tun?“, fragte Fey Efauna.
„Nein“, erwiderte Mera, „ich wusste bis heute morgen nicht, dass es so schöne Tiere überhaupt gibt.“
Fey Efauna sah ihnen lange nachdenklich nach, als die Mädchen den Stall verließen.

Es war höchste Zeit zum Tempelgebäude zurück zu gehen, gleich würde es eine Brotzeit zum Abend geben und sie mussten sich noch waschen. Die Kleidung mussten sie nicht wechseln, denn obwohl für gewöhnlich Arbeit im Stall alles andere als sauber war, blieb doch auf der ungewöhnlichen Kleidung nicht ein Staubkorn haften. Mera nahm sich vor, auch dieses Rätsel zu ergründen. Später.

Falaner sagte auf dem Weg bewundernd: „Das habe ich bei Fey Efauna noch nicht erlebt. Du hast ihre Regel nicht befolgt, ohne sie die Tiere nicht anzufassen, und sie hat dir dafür nicht den Kopf abgerissen – wie sie es bei jedem anderen gemacht hätte. Übrigens, Ponhi hat bisher jede von uns schon gebissen. Jede! Auch Fey Efauna.“

~

Im Dormitorium der Mädchen kehrte langsam Ruhe ein. Mera fragte sich, wie es Pietje wohl erginge, sie hatte ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Die waren hier tatsächlich sehr streng mit der Regel, dass Jungen und Mädchen getrennt zu sein hatten. Mera verstand es nicht. Was war dann sie? Wo dürfte sie sein, wenn sie älter wäre? Wenn ihr Körper sich entwickeln würde, wie sie es sich wünschte. Es gab hier ja nur die zwei Bereiche, keinen für sie. War sie denn überhaupt ein Mädchen?
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Mera das Gefühl, nicht sein zu dürfen, wie sie war. Sie hätte keine Probleme gehabt, ihr Selbst zu zeigen, aber hier im Tempel, hatte sie das vage Gefühl, wäre das nicht angebracht. Sie beschloss, ihre Überlegungen erst einmal für sich zu behalten. Sie hatte Angst vor möglichen Konsequenzen. Dies hier war eine fremde Welt und sie musste erst herausfinden, wie sie als Mera da hineinpasste.

Die Tür des Dormitoriums öffnete sich, Benra und Falaner kehrten von ihrer Giswestar-Gruppenbesprechung zurück. Das Licht ihrer Leuchtschwammlampen glühte schwach den Gang entlang.
„Bist du noch wach?“, fragte Falaner leise. Mera richtete sich leicht auf und stützte sich auf einem Arm ab. „Ja.“

Falaner zog sich im Schein der sachte grün glimmenden Lampe bis auf die Unterwäsche aus. Sie deckte die Lampe ab, tastete sich hinüber, setzte sich auf Meras Bettkante und sagte: „Die Hohe Zyklania möchte euch morgen nach dem Frühmahl sehen. Keine Sorge, sie schaut sich immer alle Aspiranzen selber an.“ Sie streichelte Mera beruhigend über das kurze schwarze Haar und wollte in ihr eigenes Bett hinüber als sie noch einen Moment zögerte. „Eigentlich dürfen wir das nicht, das ist eine strenge Regel, aber… Darf ich dir einen Gutenachtkuss geben?“
Mera dachte an zuhause, vermisste ihre Eltern plötzlich und obwohl ein Gutenachtkuss ganz sicher nur für Kinder war und sie schon lange kein Kind mehr war, wünschte sie sich doch etwas menschliche Nähe, hier in der Fremde, getrennt von ihren vertrauten Wesen. Mera machte ein zustimmendes Geräusch.

Falaner beugte sich vor und küsste Mera zart. Auf den Mund.
Noch bevor Mera realisierte, dass Falaner sie nicht wie erwartet auf die Stirn oder Wange geküsst hatte, war diese zu ihrem eigenen Bett hinüber gehuscht und legte sich schlafen. Der flüchtige Kuss auf den Mund war überraschend gewesen. Aber auch schön. Mera tastete mit den Fingern über ihre Lippen. Nachdenklich kuschelte sie sich wieder in ihr Kissen.

Mera spürte, dass ihr Anam Cara wach wurde. Das war auch so eine Sache, von der sie niemandem erzählt hatte, nicht einmal ihren Feydahn oder Eltern. So viele Geheimnisse. Sie unterhielt sich noch eine ganze Weile mit Pan. Am liebsten hätte sie die ganze Nacht damit verbracht, sich über ihre jeweiligen Erlebnisse auszutauschen, aber ihr Tag war sehr lang und ereignisreich gewesen. Es war auf alle Fälle gut, dass sie mit Pan über größere Entfernungen in der Astral-Stimme reden konnte. Sie mochte den Begriff astral. Aber es war auch überaus beruhigend, dass Pan in dieser Nacht bis in die Umgebung der Stadt Lunby fliegen und damit in ihrer unmittelbaren Nähe sein würde. Das Kachimunia hatte Hunger, Pan verabschiedete sich daher und Mera schlief sofort ein.

~

Nervös standen Mera, Yoralou und Pietje vor der Tür der Hohen Zyklania. Ihre Giswestars hatten sie bis hierhin begleitet und würden im Vorraum auf die Anwärter warten. Zuvor hatten sie ihnen noch einmal eingeschärft, wie sie sich in Gegenwart der Obersten Ordensschwester zu verhalten hatten. Endlich öffnete eine Akolyth ihnen die Tür zum Zimmer der Hohen Zyklania. Mera sah, dass die Akolyth Tinte an den Fingern hatte. Bestimmt war das Mädchen für das Protokoll eingeteilt, vermutete Mera. Sie sollte recht behalten, denn die Akolyth eilte, nachdem sie hinter den Kindern die Tür geschlossen hatte, an einen mit Papierrollen bedeckten Tisch in einer Fensternische und griff nach einer Schreibfeder.
„Danke, Tahuti“ kam es von der anderen Seite des Zimmers. Das Mädchen am Schreibtisch neigte den Kopf.

Mera bemerkte erst jetzt Fey Alrube und Fey Beliza, die dort standen und die drei Feydahn musterten. Yoralou und Mera trugen ihre schwarzen Anwärterinnen-Röcke. Mera fühlte sich überhaupt nicht wohl in der Tempel-Kleidung. Sie vermisste ihre Hose sehr und beneidete Pietje um seine. Der Junge stand in weit geschnittener Kleidung da, ein langes Hemd fiel über die Hosen, die in schwarzen Stiefeln steckten, den Abschluss bildete eine offene Weste über dem Hemd. Einmal mehr ärgerte sich Mera über die in ihren Augen unnötige Unterteilung.

„Tretet näher, hierher ins Licht, ich will euch ansehen“, hörten sie eine melodische Stimme. Die Person hatte nicht laut gesprochen, trotzdem hallte der Satz quer durch den Raum. Direkt an der Fensterfront stand hoch aufgerichtet die Hohe Zyklania. Um ihren Hals hing die silberne Kette, die Mera von weitem schon am Vortag im Speisesaal gesehen hatte. Sie reflektierte das Sonnenlicht. Der Anhänger bestand aus einem fein gearbeiteten Doppel-Halbmond. Fey Beliza winkte den Kindern ungeduldig, endlich der Aufforderung zu gehorchen. Die Kinder gingen vor, bis sie eine Handbewegung von Fey Alrube innehalten ließ.

Mera sah, dass eines der bodenlangen Fenster eine Tür war, die auf einen schmalen Balkon hinausführte. Die Tür stand offen. Auf einem Kissen in der Sonne räkelte sich ein Tier. Yoralou keuchte auf. „Ein Pardertier“, hauchte sie ergriffen.
„Ganz recht“, die Hohe Zyklania lächelte. „Das ist Feline.“ Das Tier, dessen helles Fell mit Abdrücken von Halbmonden übersät zu sein schien, stand geschmeidig auf, als es seinen Namen hörte und kam in das Zimmer geschlendert. Beiläufig rieb es sich am Bein der Hohen Zyklania und kam auf die Kinder zu.
Mera legte dem zurückweichenden Pietje die Hand auf die Schulter und sagte beruhigend. „Das Tier ist nur neugierig, keine Angst. Mach eine Skizze davon.“
Pietje griff nach seinem Block und dem Stift und hatte seine Bedenken anscheinend vergessen, als er mit leichten Strichen das Tier auf das Papier brachte.
Mater Lugosvitta, die Hohe Zyklania, hob erstaunt die Augenbrauen.

„Mir scheint, Fey Beliza und Fey Alrube, ihr habt eine gute Wahl getroffen mit diesen hier.“
Mera zwang ihre Aufmerksamkeit von dem wunderschönen Tier weg, das sich elegant zu ihren Füßen niedergelegt hatte und betrachtete unverhohlen die Mater, die sie ebenfalls aufmerksam musterte. Die Frau war verhältnismäßig jung. Die hellen Haare waren tatsächlich ein fast weißes Blond. Eine feine graue Narbe zog sich über eines der Augen, fast verdeckt von einer Haarsträhne. Dieses Auge schien leicht milchig zu sein, das andere strahlte in honigfarbenem Gelbbraun.

Mater Lugosvitta ging nun zu einem breiten Sitzmöbel, das neben einer Säule vor der Fensterfront stand, näher bei den Kindern. Sie setzte sich. Mera bemerkte, dass die Mater einen Fuß etwas angestrengter nachzog, eine nur winzige Unregelmäßigkeit in der Bewegung, die kaum auffiel. Ohne nachzudenken schob Mera einen Hocker neben der Sitzbank näher heran, damit die Mater ihr Bein hochlegen konnte.
„Danke, mein Kind.“ Die Mater schien von etwas amüsiert. „Das dürfte ein Novum sein“, sagte sie lächelnd zu Fey Alrube. Diese nickte verdattert. Das war alles so nicht im Ablauf vorgesehen, schien ihr Ausdruck zu sagen.

„Ihr Kinder“, sagte Mater Lugosvitta, „die Göttin hat euch ausgewählt, ihr einen Sonnenkreis lang zu dienen. Ihr bekommt dafür eine umfassende Ausbildung. Ihr könnt euch nach diesem Sonnenkreis entscheiden, ob ihr weiterhin im Tempel dienen und lernen wollt. Niemand ist euch böse, falls ihr dann gehen möchtet. Wie immer ihr euch entscheidet, liegt allein bei euch. Bei wenigen Anwärtern tritt die Begabung allerdings so deutlich zutage wie bei euch dreien.“
Sie sah Yoralou an. „Du bist Yoralou? Was meinst du, warum haben sich die Schwestern für dich entschieden?
Das Mädchen warf einen Blick auf Fey Beliza, die ihr auf der Reise die Schriftrollen gegeben hatte. „Weil ich mich für Tiere fremder Länder interessiere und mehr darüber lernen möchte?“ Fey Beliza räusperte sich auffordernd. Yoralou fügte ein hastiges „Hohe Zyklania“ hinzu.
Ohne auf die Antwort einzugehen, fragte die Mater nun Pietje: „Und du? Pietje, richtig? Was meinst du, ist deine Begabung?“
Pietje hob den Skizzenblock. „Hohe Zyklania, das hier. Das will ich mehr als alles andere. Das und reisen und schreiben und…“ Er brach ab, als die Mater hell auflachte. Es war ein wunderschöner Klang, dachte Mera.

Bevor die Mater ihr dieselbe Frage stellen konnte, platzte Mera heraus: „Ich weiß nicht, warum ich hier bin, Mater Lugosvitta. Ich kann doch gar nichts. Ich bin einfach nur Mera. Und in einem Sonnenkreis werde ich wieder gehen.“
Fey Beliza sog scharf die Luft ein ob dieser Disziplinlosigkeit, griff aber nicht ein. Dies war eine Angelegenheit der Hohen Zyklania.

Mater Lugosvitta lächelte immer noch. „Mera, sei so lieb und bring mein Pardertier zurück auf den Balkon.“
Damit hatte Mera nicht gerechnet. Bestimmt würde sie nun gleich wieder nach Hause geschickt werden. Sie hatte ihren Eltern Schande gemacht. Mera schämte sich und beinahe wollte sie weinen. Später. Zuerst musste das Tier hinaus, das nicht aussah, als ob es sich etwas sagen lassen würde, schon gar nicht von einer Fremdperson. Mera hatte trotzdem eine Idee, die Parderkatz zur Kooperation zu bewegen. Sie bat Pietje um ein leeres Blatt von seinem Block, das er widerwillig herausriss und ihr gab. Mera zerknüllte es zu einem Ballen. Feline hatte schon beim Rascheln des Papiers die Ohren aufgestellt. Nun warf Mera den Ballen zur Tür hinaus und das Pardertier sprang hinterher. Feline würde eine Weile damit beschäftigt sein. Draußen.

„Werde ich nun weggeschickt, Mater Lugosvitta?“, fragte Mera vorsichtig.
Wieder lachte die Mater hell auf. „Seht euch nur dieses Kind an“, sagte sie zu Mera, „du weißt nicht einmal, dass du da eine ganz besondere Gabe hast, nicht wahr? Dein Talent ist deine Empathie. Deine Gabe ist es, mit Wesen kommunizieren zu können, sie nonverbal zu lesen. Fey Efauna hat mir vom Ponhi-Vorfall erzählt. Du hast es bereits an deinem ersten Tag in die Aufzeichnungen des Tempels geschafft.“
Noch einmal lachte sie ihr bezauberndes Lachen. „Mit Yoralou und Pietje haben wir auch Großes vor. Vielleicht möchtet ihr beiden später nach Etuss reisen und die dortige Fauna dokumentieren – falls ihr euch entscheidet, dem Orden beizutreten? Ihr habt alle Zeit Arsaduns, euch das zu überlegen.“

Und dann war die Vorstellungszeit vorbei, die drei Feydahn wurden mit einem ‚Gepriesen sei die Göttin Dom‘ zurück zu ihren Giswestars geschickt.

Zeit der Reife

Und so begann der Sonnenkreis im Tempel der Mondgöttin für Mera und ihre Feydahn. In der ersten Semane wurden sie in etlichen Fächern getestet, um darauf aufbauend Lehrpläne für sie individuell anzupassen. Danach reihte sich Semane um Semane, bis daraus Mischans wurden. Der Tempel bot so viel mehr Möglichkeiten, Wissen zu erlangen, als die Lernhalle daheim in ihrem Dorf. Die Kinder stürzten sich mit Eifer auf den Lernstoff, der ihren Neigungen entsprach und auf sie zugeschnitten war. Einzig Mera haderte immer noch jeden einzelnen Tag mit der Kleidervorschrift. Sie empfand den Rock als eine einzige Zumutung, der sie in ihrer Beweglichkeit hinderte.

Besonders bei den Exkursionen, die sie nun mit ihren Feydahn und Giswestars unternehmen durften. Die Lehrkräfte hatten das Potential erkannt, wenn die drei Feydahn als ein sich ergänzendes Team unterwegs waren. Also durften die ‚Waldkinder‘, wie sie von einigen Akolythen genannt wurden, zusammen wandern und forschen. Und so wie Mera und Yoralou auf Pietje acht gaben, der in seinem Eifer, möglichst nah an seine Zeichenobjekte zu gelangen, nicht immer zur Vorsicht neigte, kümmerten sich Benra und Falaner liebevoll um Filip. Der Hüne war langsam im Denken, brauchte oft mehr Zeit und manchmal bekam er wichtige Dinge einfach nicht mit. Die Gruppe gab ihm die Zeit, die er brauchte. Niemand drängte Filip. Alle mochten ihn, er gehörte dazu.

Dies war ein weiteres Rätsel, fand Mera. Sie begrüßte es sehr, dass alle individuell ihren Platz im Tempel gefunden hatten, alle aufgenommen und gefördert wurden. Ohne Unterschiede hervorzuheben. In Lunby trafen sich Menschen des gesamten Kontinents Dazel und sehr viele Menschen kamen von Etuss. Es wurde keine Unterscheidung gemacht, weder wegen der Herkunft noch wegen irgendeiner anderen Besonderheit wie Alter, Intelligenz, Haarfarbe oder Behinderung.
Außer eben in diesem einen Punkt, dass die Geschlechter in lediglich zwei aufgeteilt und im Tempel strikt getrennt waren.

~

Meras 14. Geburtstag stand bevor. Zur Feier des Tages hatte Falaner vorgeschlagen, mit der Gruppe in das Badehaus am Fuß des Mondberges zu fahren. Es war naheliegend, dass in den warmen Semanen des Sonnenkreises Ausflüge zum Meer gemacht wurden. Dort konnte geschwommen werden. Der nahe Fluss war wegen der gefährlichen Strömung dafür nicht geeignet. Und dort, wo der Strom sich in einem sumpfigen Delta verzweigte, gab es Bohrwürmer und andere Kreaturen, die den Aufenthalt verleideten. Im Badehaus jedoch gab es warmes Wasser, das aus heißen Quellen in große Becken floss und andere Wunder. Die Feydahn entschieden sich geschlossen für einen Besuch am Vormittag. Von den Lehrenden hatten sie die Erlaubnis bekommen, diesen Tag ohne Lerneinheiten zu verbringen. Sie ließen sich vom Fuhrwerk, das die tägliche Tour zum Hafen machte, ein Stück mitnehmen und gingen den Rest des Weges zu Fuß.

Am Eingang trennte sich die Gruppe, Pietje und Filip hatten extra Umkleideräume und Badebereiche aufzusuchen. Mera registrierte es grummelnd. Es kam ihr so unsinnig vor. Am Meer badeten doch auch alle zusammen. Zwischen Umkleideräumen und Badehalle lagen Waschräume, die sie benutzt hatten, um nun sauber die großen Becken zu betreten.
Um diese Zeit waren nur zwei oder drei alte Leute im Becken, die aber bald die Halle verließen. Vermutlich weil es fast Mittagszeit war. Es führten Stufen in das Wasser hinein, das leicht dampfte. Der Dampf wallte über dem Wasser und zwischen den vielen Pflanzen, die so etwas wie Natur vortäuschten. Sogar kleine Flugechsen jagten zwischen den höheren Gewächsen hin und her. Es war fast wie zuhause, dachte Mera. Nur, dass die Fosser nie so warm gewesen war.

Mera, Yoralou und Falaner schwammen ein paar Runden im heißen Becken, bis ihnen zu warm wurde. Sie tauchten kurz in das daneben liegende kalte Becken ein und legten sich dann mit ihren Badetüchern unter sich zwischen Polmenbäumen auf Holzbänke, die zu diesem Zweck dort aufgestellt waren.
Yoralou schaute auf Meras Brustbereich.
„Deine Brüste sind gewachsen in diesem Sonnenkreis“, stellte sie fest.
Mera sah an sich hinunter und dann auf Yoralous Brüste.
„Stimmt. Deine aber auch. Sie sind fast schon so groß und so schön wie die von Falaner.“
Falaner hatte einen hochroten Kopf bekommen bei diesen Worten, wie Mera registrierte. Es harmonierte auf eine seltsam kontrastreiche Art zu Falaners blonden Haaren, die sie zum Baden als Zöpfe um den Kopf gewunden hatte. „Entschuldige, Falaner“, sagte Mera, ich vergesse immer wieder, dass ihr Stadtmenschen nicht so offen über eure Körper redet, „tut mir leid.“

Eine Weile lagen sie einfach da, genossen die warmen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster schienen und mit den Schatten der Polmenblätter auf ihrer Haut spielten. Yoralou kicherte plötzlich.
„Weißt du noch Mera, dein Geburtstag in der Scheune, vor zwei Sonnenkreisen? Ist dein Penis eigentlich gewachsen?“, sagte sie in die Luft über sich, die Augen geschlossen.
Falaner richtete sich interessiert auf.
Mera lächelte ebenfalls, sich daran erinnernd.
„Ein wenig schon, aber da geht noch was“, sagte sie selbstbewusst.
Aus den Augenwinkeln sah Mera, wie Falaner ihren Blick über Meras nackten Körper wandern ließ.
„Dann bist du ein… Mädchen mit Penis, oder was?“, fragte Falaner und es klang nicht wertend, nur neutral und neugierig.
Mera sah Falaner ins Gesicht und sagte, ebenso neutral: „Nicht ganz, und nicht ‚oder was‚. Ich bin Mera.“

Nach dem langen Besuch im Badehaus aßen sie noch Würzelspieße mit Zigot-Knofilauchquark in einer kleinen Garküche, das Bad hatte hungrig gemacht. Sie traten zügig den Heimweg an – die Tore des Tempels schlossen bei Sonnenuntergang.

~

Falaner ließ die anderen ein gutes Stück vorgehen und bat Mera neben ihr zu bleiben.
„Vor einem Sonnenkreis, an deinem ersten Abend im Dormitorium“, begann Falaner zögernd, „da habe ich etwas getan, was ich nicht durfte.“
„Du meinst den Kuss?“
„Ja.“
„Was war falsch daran?“, wollte Mera wissen.
Falaner sagte: „Alles! Du warst viel zu jung – bist du immer noch. Ich bin für dich verantwortlich, aus einem solchen Verhältnis heraus ist eine Beziehung nicht möglich, alle Handlungen meinerseits in dieser Richtung sind Übergriffe. Jemand hätte es sehen können. Es ist verboten.“
„Deshalb ist es nie wieder vorgekommen“, stellte Mera sachlich fest. Aus einem Impuls heraus hakte sie nach: „Das ist nicht, was du mir eigentlich mitteilen wolltest, oder?“
Falaner nickte. Sie war stehen geblieben, suchte nach einer Formulierung. „Du schienst nicht schockiert zu sein, dass ich dich geküsst habe.“
„Nein“, meinte Mera, „warum sollte ich?“
„Mädchen… Mädchen küssen einander nicht.“
„Das ist doch Rinnokacke!“, fuhr Mera auf, „warum hast du mich denn damals geküsst, na? Sag es mir. Aber sei ehrlich, besonders zu dir selbst!“
Falaner schluckte. „Weil… du warst so… bezaubernd, ich musste dich einfach küssen.“ Sie stockte einen Moment. „Ich könnte nie Jungen oder Männer küssen. Ich… das war schon immer so bei mir… ich möchte nur mit Mädchen zusammen sein.“ Falaner schlug vor Scham die Hände vor das Gesicht.

„Wer hat denn diese absurde Idee erfunden, dass sich Mädchen nicht in andere Mädchen verlieben dürfen und küssen können, wen immer sie küssen wollen?“, fragte Mera.
Falaner nahm die Hände vom Gesicht, atmete durch und sagte: Es ist eben so, es sind die Regeln dieser Stadt, dieses Landes.“
„Dann wird es aber mal Zeit, diese ‚Regeln‘ zu überprüfen.“

Mera nahm sich vor, eine Liste zu erstellen, was sich alles ändern müsste. Es würde eine lange Liste werden. Und ganz weit oben auf diesem geistigen Zettel stand die Abschaffung der Kleiderpflicht.

~

In den nächsten Semanen bereiteten sich die Anwärter auf ihre Prüfungen vor. Die Inhalte waren weniger Abfragen nach ihrem Wissensstand, es war vielmehr der Versuch, den Anwärtern dabei zu helfen, eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. Yoralou und Pietje hatten sich bereits früh im Sonnenkreis entschieden, als Akolythen im Tempel zu bleiben. Die Aussicht, etwas Großes in ihren Leben erreichen zu können, war verlockend, im Gegensatz zu der Perspektive, die sie im heimischen Dorf erwartete. Besonders Pietje war froh, eine Alternative zur Bäckerei zu haben. Yoralou ging ganz in ihrer Forschungsarbeit auf. Im nächsten Sonnenkreis würde sie an einer Expedition in die Vulkan-Ebenen von Etuss teilnehmen. Pietje würde ebenfalls mitkommen. Allein, Meras Entschluss, nach diesem Sonnenkreis die Studien im Tempel definitiv abzubrechen, war ins Wanken geraten.

Mera mochte die Arbeit in den Ställen. Doch wenn sie ginge, würde sich nichts ändern. Sie würde ganz einfach wieder nach Hause fahren, mit dem Segen der Göttin, ihr altes Leben wieder aufnehmen. Aber – konnte sie das jetzt noch? Mit all dem Wissen, das sie erlangt hatte. Oder vor allem, wegen des Wissens, das sie noch nicht hatte. Sie wollte mehr lernen, mehr wissen. Sie wollte nichts Geringeres, als die Zukunft zu ändern. Mera dachte an das Versprechen, das sie ihren Eltern gegeben hatte. Ihr wurde das Herz schwer.

Nach Abschluss der Prüfungen wurden die Anwärter zu Einzelgesprächen mit der Hohen Zyklania gerufen. Wie versprochen, durften alle sich ohne Zwang aussuchen, wo sie ihr weiteres Leben verbringen wollten. Yoralou und Pietje kamen nach kurzer Zeit wieder aus dem Amtszimmer der Mater, auf den Armen Kleiderstapel in Grau, obenauf die Schriftrolle, die bescheinigte, dass sie nun Akolythen wären.
Mera war die nächste, die das Zimmer der Hohen Zyklania betrat. Es war lediglich die Mater anwesend, niemand sonst.

„Gesegnet sei die Mondgöttin Dom“, sprach Mera artig die Formel.
„Gepriesen sei ihr Name“, antwortete die Leiterin des Tempels. „Nun Mera, wie hast du dich entschieden?“, wollte sie wissen.
Feline, das Pardertier kam heran und begrüßte Mera nach Katzenart.
So viel Flausch in der Nähe, dabei muss ich jetzt hart bleiben, dachte Mera beinahe verzweifelt, sich zusammenreißend, um nicht hemmungslos im Samtfell des Parders zu wühlen. Sie verschränkte die Hände vor der Brust.

„Darf ich Bedingungen stellen, Mater Lugosvitta?“ antwortete Mera mit einer Gegenfrage.
Die Hohe Zyklania hob neugierig eine Augenbraue. „Erkläre dich, Kind“, sagte sie freundlich.
Ich bin kein Kind mehr, dachte Mera, das klären wir aber später!
„Erstens: wenn ich mich entscheide zu bleiben, werde ich keinen Rock mehr tragen. Ich bestehe auf einer Hose. Diese überkommene Kleiderordnung ist Rinnokacke. Ich kann so nicht effektiv arbeiten!“
Die Hohe Zyklania versuchte erst gar nicht ernst zu bleiben. Für einen misstrauischen kurzen Moment, befürchtete Mera ausgelacht zu werden.
„Endlich sagt es mal jemand!“, prustete die Frau. „Abgemacht!“
„Echt?“ Mera war verdattert. Das war einfach gewesen.

„Und zweitens?“, fragte die Hohe Zyklania.
Mera sagte: „Wenn ich also hierbleibe, dann habe ich eine lange Liste von Änderungen. Ich weiß, als Akolyth habe ich keine große Macht, aber ich verspreche hiermit feierlich, alles dafür zu tun, dass sich manche Dinge grundlegend ändern werden. Hier im Tempel, in der Stadt und auf dem Kontinent.“
„Du hast mich neugierig gemacht, Kind, magst du ausführen?“
„Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, Mater Lugosvitta, aber ein Kind bin ich nicht mehr!“
„Oh, natürlich nicht. Du hast recht, Mera, das klingt abwertend.“
Mera bekam eine Ahnung, warum diese Frau bereits in diesem Alter nicht nur dem Tempel, sondern einem landesweit agierenden Orden vorstand.

„Es ist eine lange Liste. Angefangen mit der Frage, warum Phob und Deim männlich dargestellt werden. Warum hier alles in nur zwei Geschlechter aufgeteilt ist. Warum die Tempeltiere in Käfige gesperrt sein müssen. Warum wir die Göttin der Liebe anbeten, gleichzeitig jedoch die Liebe zwischen Menschen verbieten.“ Mera stockte, sie wollte in ihrer Rage noch einiges ergänzen, hatte jedoch das Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben. Nervös wartete sie auf eine Reaktion der Mater.
Feline stieß auffordernd gegen ihre Handfläche. Abgelenkt tat Mera dem Parder nun doch den Gefallen und kraulte hinter den Ohren. Feline schnurrte.

„Magst du eigentlich Drachen?“, fragte Mater Lugosvitta nachdenklich.
„Was…?“ Mera blinzelte. „Ja, äh, ich glaube schon.“
„Nimm dir für morgen nichts vor. Wir beide werden für den Tag verreisen“, bestimmte die Leiterin des Ordens, als hätte sie einen Entschluss gefasst. Sie richtete sich gerade auf. Etwas veränderte sich im Raum.

Die Hohe Zyklania sah plötzlich sehr offiziell aus als sie fragte: „Mera Orfe, vom Orfe-Hof im Wald an der Fosser, willst du weitere drei Sonnenkreise dem Tempel, der Göttin und dem Orden dienen?“
Mera blinzelte. Die Mater hatte die Autorität der Mondgöttin selbst angenommen. Gepriesen sei ihr Name. Mera sank auf ein Knie und hob den Kopf, sah empor zu der aufrecht stehenden Frau vor ihr. Sie legte zwei Finger über ihre linke Brust und sprach feierlich die Formel: „Vor euch, Mater Lugosvitta, und vor der Göttin Dom: ich gelobe, weitere drei Sonnenkreise zu dienen.“
„Dass du tatsächlich kniest, hätte ich nicht erwartet. Ich schulde Fey Beliza einen Silberstern. Wir hatten gewettet.“ Die Mater lachte auf, zog Mera hoch und küsste sie auf den Haaransatz.
„Das werden interessante drei Sonnenkreise. Mindestens“, sagte sie.
Darin waren sich Mera und die Zyklania einig.

Aber zunächst musste Mera noch ein gebrochenes Versprechen erklären und wusste nicht wie.

~

Pan langweilte sich schrecklich. Das Kachimunia fraß abwechselnd in einem Pomselbaum und machte schnelle Abstecher zu den Sorinenbüschen, um dort zu naschen. Mera schlief bereits. Bald würde em mit dem Mädchen das Morphen üben. Noch immer hatte em keinen Kontakt zu ems Schowenga. Pan war auf sich allein gestellt. Vielleicht war dies Teil der Prüfung. Em hatte einfach zu viel vergessen. Immer noch hatte em das Gefühl, etwas wäre entweder beim Transfer nach Arsadun oder bei der Verschmelzung gründlich schief gelaufen. Hoffentlich war noch alles mit seinem Körper in Ordnung drüben auf Plutor. Aber falls nicht, hätte em es sowieso unmittelbar gemerkt, dachte Pan sarkastisch, im Gehirn dieser Flugratte festsitzend, denn dann gäbe es überhaupt keinen Pan mehr.

Drachen und Bohnen

Am Tag danach zog Mera frühmorgens ihre neue graue Hose an, den Gürtel ihres Vaters. Das lose Hemd, darüber die Weste. Diese Kleidung war ein Teil von ihr. Es fühlte sich gut an. Mera strahlte. Falaner half ihr mit dem Stirnband. Mera durchschritt hocherhobenen Hauptes die Länge des Dormitoriums, den Kapuzenmantel über dem Arm. Sie hatte sich beinahe auf Anfeindungen eingestellt oder auf Zuspruch von einigen wenigen. Die Mädchen des Schlafsaals unterbrachen ihre Tätigkeiten als sie vorbeiging, legten die Finger an die Brust oder klatschten Beifall, lächelten ihr zu. Ausnahmslos.

In der Küche ließ sich Mera eine Provianttasche packen, trank eine heiße Schale Kräutertee mit Weebee-Honig, während sie wartete, eine Botterstulle aß sie im Gehen. Draußen legte sie ihren Mantel um, den Sack hängte sie sich über ihre Schulter.

Sie sollte die Hohe Zyklania bei den Ställen der Stulliche treffen. Zwei der älteren Tiere standen angebunden vor der Stalltür. Sie sah Fey Efauna, die gerade eine dicke Decke über den Rücken eines der Tiere legte. Sie band diese mit einem breiten Riemen fest, den sie um die Brust des Tieres schlang.
Eine andere Person, in weiß gekleidet, mit Hose und Stiefeln, stand mit dem Rücken zu Mera neben dem zweiten Tier. Die Person drehte sich um, als Fey Efauna von Mera begrüßt wurde.

„Gepriesen sei die Göttin, Akolyth Mera“, sagte die Hohe Zyklania.
Anstatt mit der Formel zu antworten, sagte Mera verdattert: „Ihr tragt Hosen, Mater Lugosvitta!“
„Ganz offensichtlich“, entgegnete die Ordensleiterin schmunzelnd. „Das mit der Hose ist eine gute Idee, besonders beim Reiten. Bist du schon einmal geritten?“
Mera überlegte. Als sie kleiner war, hatte sie sich am Orfe-Hof oft über den Rücken eines gutmütigen Rinnos gelegt. Das zählte vermutlich nicht als Reiten. Mera schüttelte verneinend den Kopf.

„Sieh genau zu, wie ich es mache. Fey Efauna, wäret ihr so lieb…?“
Die Stallmeisterin trat zur Mater, verschränkte ihre Hände. Die Zyklania legte ein Knie hinein und schwang sich mit dem Extraschwung auf den Rücken des Stullichs. Vom Halfter hingen zwei Leinen hinunter, die der Mater nun in die Hand gegeben wurden. „Und nun du, Mera.“

Mera drückte der verdutzen Fey Efauna ihren Beutel in die Hand und ging zunächst zum Kopf des Stullichs, das sie reiten sollte. Im Geiste fragte sie das Tier um Erlaubnis, aufsitzen zu dürfen und streichelte den Hals entlang. Das Stullich schnupperte zutraulich an Mera und schien einverstanden. Erst jetzt nutzte Mera die Hilfestellung von Fey Efauna und saß auf. Das Tier war hoch. Mera brauchte einen Moment, um sich an die veränderte Perspektive und das Schwanken zu gewöhnen.

Es gab nichts, worauf sie ihre Füße hätte abstellen können. Die Beine hingen irgendwie haltlos an den Seiten des bunten Tieres hinab. Mera hatte das Gefühl, da müssten vielleicht Schlaufen sein. Sie äußerte ihre Überlegung.
Fey Efauna sah aus, als hätte sie bereits passende Ideen im Kopf und eilte in den Stall, um diese auszuprobieren. Zuvor hatte sie Mera noch den Proviantrucksack und die Leinen des Halfters in die Hände gedrückt.
„Wohin reiten wir, Mater Lugosvitta?“, fragte Mera neugierig.
Die Hohe Zyklania sah sich um, ob jemand in Hörweite war. Dann sagte sie zu Mera: „Du darfst mich Agi nennen, wenn wir alleine sind. Ohne Mater, ohne Titel, einfach Agi.“

Sie wendete ihr Reittier und ritt Richtung Westen, zu einem Seitenausgang der Tempelanlagen. Meras Stullich folgte einfach. Mera hätte nicht gewusst, wie sie das Tier zum Laufen gebracht hätte und war dankbar für den funktionierenden Herdentrieb. Im ersten Teil des Weges hatte sie noch gut damit zu tun, sich im Gleichgewicht auf dem Tierrücken zu halten. Aber irgendwann überließ sie sich dem Rhythmus des gutmütigen Stullichs und wurde etwas mutiger. Mera probierte aus, wie sie mit Verlagerungen ihres Gewichts das Stullich dazu bringen konnte, die Richtung oder die Geschwindigkeit zu ändern. Bald hatte sie sich mit dem Tier geeinigt.

Mater Lugosvitta hatte den Bemühungen ihres Schützlings zugesehen, ohne einzugreifen. Nun, da sie sah, dass Mera zurecht kam, erklärte sie: „Wir reiten in die Vulkanberge. Ich möchte, dass du Linda kennenlernst.“
Mera war abgelenkt, antwortete lediglich mit einem Nicken. Sie übte in Gedanken, ihre Ordensleiterin mit dem Vornamen anzureden.

Sie hatten ihren Ausritt sehr früh begonnen. Die Gegend wurde rauer, felsiger, die Gewächse spärlicher. Mit sicherem Tritt brachten die Stulliche sie ihrem Ziel näher, vom dem Mera immer noch nichts Genaues wusste. Schon wucherten erste Nierenbohnenbüsche neben dampfenden Erdspalten. Es roch nach Unterwelt. Im Tempel war sicher das Morgenmahl längst vorbei, glaubte Mera, die schon wieder Hunger bekam, allein bei dem Gedanken an Essen. Geröstete Brote wären jetzt fein, dachte sie. Allmählich begann ihr Gesäß taub zu werden.

Agi hatte begonnen, kleine fröhliche Tonfolgen vor sich hin zu singen. Es war kein Lied mit Text und folgte keiner bestimmten Melodie. Kurz unterbrach die Mater ihren Gesang, um Mera zu erklären, dass dieses Singen in der Gegend, in der sie geboren worden war, joiken genannt wurde.
Mera liebte die Singstimme der Hohen Zyklania. Fasziniert vergaß Mera ihre Befindlichkeiten, während sie den Improvisationen lauschte. Sie schrak auf, als die Mater sagte: „Wir sind da, Mera.“

Die Mater stieg an der Bergseite von ihrem Stullich, bemüht, das Gewicht beim Aufkommen auf den Boden möglichst nur auf ein Bein zu legen. Irgendwann würde Mera die Ordensfrau fragen, was mit ihrem Bein passiert war. Oder mit dem Auge. Doch weder als Akolyth noch als Mensch stand ihr diese vertrauliche Neugier jetzt schon zu.

„Linda Udenberg! Sei gegrüßt. Der Segen der Göttin sei mit dir!“, rief die Hohe Zyklania. Mera war verwirrt. Hier war doch niemand. Sie sah sich um. Felsen, Spalten, aus denen Rauch aufstieg, üppig wuchernde norische Bohnen, kein Haus, keine Hütte, kein Mensch.

Aus dem Grün der norischen Nierenbohnen hob sich ein großer Echsenkopf mit flacher Schnauze. Nun, da sich etwas bewegte, erkannte Mera den Rest des gigantischen Körpers, der farblich mit den Bohnenbüschen verschmolz. Die langen, losen Schuppen glichen eher grünen Federhaaren oder vielmehr Blättern, die sich im Bergwind wie die Blätter der Büsche bewegten. Unter buschigen Augenbrauen hervor blinzelten lilafarbene Augen. Das Drachentier gähnte und reckte sich. Die Länge war beachtlich. Und es hatte noch nicht einmal die Flügel aufgespannt. Mera fragte sich, ob dies der Drache gewesen war, den sie bei ihrer Ankunft in Lunby gesehen hatten.
„Ah, du bist es, Agi Lugosvitta“, sagte der Drache, „und du hast Besuch mitgebracht. Willkommen Mensch. Wie ist dein Name? Ich heiße Linda.“

Mera brauchte zwei Versuche, bis sie antworten konnte. Ein sprechendes Tier, dachte sie. Aber der Begriff Tier und ihr Vorurteil gefielen ihr hier so gar nicht. Wenn es spricht, ist es kein Tier, oder? Wenn sie das Pan erzählte, würde sie ausgelacht werden. Andererseits war eine astrale Kommunikation mit einem Kachimunia auch nicht wirklich alltäglich.
Mera räusperte sich: „Mera ist mein Name. Sei gegrüßt, Drach… Linda!“

Mera stieg von ihrem Stullich, wie sie es bei der Ordensfrau gesehen hatte, legte ein Bein nach hinten, bis sie seitlich mit dem Bauch auf dem Pferderücken zu liegen kam und sprang ab. Der Druck auf den Bauch löste eine Flatulenz. Mera pupste laut und vernehmlich. Wie peinlich, dachte sie.
„Entschuldigung, das war nicht fein. Das Reiten hat offensichtlich meine Verdauung durcheinandergebracht. Es tut mir leid.“
„Ist nicht so schlimm“, meinte Linda belustigt, ihre violetten Augen funkelten, „ich selbst ernähre mich schließlich von norischen Nierenbohnen. Von Bohnen, verstehst du? Ich kenne das Problem! Zum Glück können wir Drachen die Flatulenz der Bohnen chemisch umwandeln, sodass wir in der Lage sind Feuer zu spucken. Soll ich mal…?“ Schon holte Linda tief Luft, um ihre Aussage zu demonstrieren.

Mera hielt sie hastig mit einer Handbewegung zurück, holte zwei mit Zigotkäse belegte Botterstullen aus ihrem Beutel, legte sie auf einen flachen Stein zu ihren Füßen und trat schnell zurück. „Bitte“, sagte sie zu Linda, und Linda atmete aus. Der Odem war wohl dosiert gewesen, das Brot knisterte bräunlich, der Käse war perfekt geschmolzen. Mera bedankte sich artig bei Linda, nahm eine der gerösteten Stullen und gab sie Agi auf einem Bohnenblatt in die Hand, die andere aß sie selbst. Köstlich!

Mera konnte sich vorstellen, in der Tempelküche mit weiteren Zutaten zu experimentieren. Zur Mater sagte sie: „Hohe… äh, Mater… äh, Agi, das muss ich mal mit Knofilauch probieren oder mit Pematos, oder Algen und Pinepoms.“
Lachend unterbrach sie die Mater: „Wir sind wegen etwas anderem hier, Mera. Linda, wir haben ein Problem zu besprechen. Mehrere Probleme.“
„Sollen wir dazu in meine Höhle gehen?“, fragte Linda. Agi nickte.

Der Berg stieg schroff zu ihrer Linken an, in der Wand klaffte eine halb zugewucherte Öffnung, die wohl der Eingang zu einer Höhle sein mochte, wie Mera erst jetzt bemerkte. Sie banden die Stulliche mit langen Zügeln an eine dickere Ranke der Büsche, sodass sie von den Blättern fressen konnten. Linda schob sich raschelnd in den Spalt. Agi und Mera folgten.

Drinnen glommen in den hinteren Ecken Leuchtalgen in den feuchteren Felsritzen. Das Höhleninnere war dadurch in ein schimmerndes Dämmerlicht getaucht. Einzig die lila leuchtenden Augen des Drachen bildeten einen Kontrast zu dem einheitlichen Grün. Linda fläzte sich auf ein Lager aus Bohnenblättern. Für die Menschen boten sich mit Moos bewachsene Felsblöcke an.

Linda wartete, bis ihr Besuch die Brote aufgegessen hatte und dann noch ein wenig länger, damit Agi und Mera Gelegenheit hatten, Wasser aus der Höhlenquelle zu trinken. Genug zu trinken habe immer Vorrang, meinte Linda.
„Agi, du hast Probleme erwähnt“, begann das wunderliche Wesen die Unterhaltung.
Die Mater richtete sich auf.
„Wo soll ich nur anfangen? Erinnerst du dich noch an die Zeit, als wir Menschen euch Drachen nachstellten und töteten?“
„Ja, und wir Drachen verwüsteten eure Dörfer und versuchten so viele Menschen, wie möglich umzubringen. Ja. Das waren schlimme Zeiten, oh ja“, meinte Linda traurig.
Mera hörte aufmerksam zu. Diese Geschichten hatte sie nur als schaurige Erzählungen gehört. Hier saß sie nun jemandem gegenüber, der die Wahrheit kannte. Vermutlich.

Mater Lugosvitta fuhr fort. Ihre Stimme hallte von den Höhlenwänden. Meras Nackenhaare stellten sich bei diesem Hall beinahe auf. „Es gab keine Freundschaft zwischen Drachen und Menschen. Nur Hass. Bis eines Tages der große Mutterdrache Aavat ein kleines Mädchen an einen Pfahl gebunden fand – wohl als Opfer, um die Drachen zu besänftigen – und es bei sich aufnahm, anstatt es zu fressen. Aavat hatte genug Blut und Zerstörung gesehen, sie wollte nicht mehr kämpfen. Und Korri hatte sich freiwillig geopfert, weil auch sie endlich Frieden wollte.“
„Die Legende von Korri und Aavat“, bestätigte Linda.

Agi beendete ihre Erzählung mit den Worten: „Aavat lernte von Korri die Sprache der Menschen. Als Korri unversehrt vom Drachenhort zurückkehrte und berichtete, wie Drachen wirklich waren, begannen die Menschen allmählich umzudenken. Endlich redeten sie miteinander und nicht nur übereinander. Am Ende stand ein Pakt. Zuerst mit diesem einen Drachen und diesem einen Dorf. Zuletzt galt der Vertrag zwischen allen Menschen Arsaduns und allen Drachen. Bis heute.“

„Mater, ich meine Agi, warum erzählt Ihr das?“, fragte Mera neugierig.
Mera und Linda sahen Agi an. „Weil ich dir Mut machen möchte auf deinem künftigen Weg, Mera. Ich wünschte, ich wäre so tapfer, wie du. Ich selbst habe nie gewagt, an den Dogmen zu rütteln. Ich bin noch nicht lange im Amt, bin die jüngste Mater seit Menschengedenken. Im Rat habe ich auch nur eine Stimme, jederzeit können mich die anderen überstimmen. Ich habe die Strukturen als gegebene Tradition gesehen, nie ernsthaft angezweifelt. Bis du, Mera, in den Tempel kamst. Du erinnerst mich an mein jüngeres rebellisches Ich. Deine Ansichten sind gar nicht zu radikal, glaube ich. Es braucht manchmal nur ein wenig Renegatentum Einzelner, um ein Umdenken einzuleiten. Wie in der Legende von Korri und Aavat.“

Und an Linda gewandt sagte Agi: „Mera hat durchgesetzt, dass sie Hosen tragen darf. Als Mädchen. Zur Erklärung: das wäre, als ob ihr Drachen nur fliegen dürftet, wenn eure Schuppen rosa wären, oder so ähnlich. Als Ordensleiterin konnte ich diese Ausnahme als Sonderfall begründen – und wie du siehst, gilt die Ausnahme auch bei mir. Mera möchte die alte Regel jedoch ganz abschaffen, damit hätte sie vermutlich nicht nur den Tempelrat gegen sich.“

Mera nickte zustimmend. Die Kleiderordnung aufzuheben sollte keine Ausnahme bleiben.
Agi fuhr fort: „Wenn ich unsere tapfere Akolyth hier richtig verstanden habe, dann wird ihre Zukunft vergleichsweise ein Kampf um Drachenrechte werden. Gegen die Regeln und für die ‚Drachen‘. Möchtest du Linda von deinen Ideen erzählen, Mera?“

Mera wurde es warm ums Herz. Sie hatte nicht gewusst, dass sie so mächtige Verbündete finden würde. „Das meiste, das ich infrage stelle, sind Menschendinge. So, wie diese komische Kleiderordnung. Warum dürfen Mädchen keine Hosen tragen – oder Jungen keine Kleider? Warum dürfen sich Mädchen nicht küssen? Warum wird überhaupt in Geschlechter eingeteilt?“ Mera zögerte kurz und ergänzte: „Warum gibt es nur zwei Geschlechter?“
Sie räusperte sich kurz, das würde sie ein andermal näher thematisieren, und fuhr fort: „Warum werden Tiere eingesperrt? Ich bin auf einem Hof aufgewachsen, da war es – ist es normal. Ich habe es jeden Tag im Tempel vor Augen. Es ist normal. Aber es sollte nicht normal sein. Was gibt uns Menschen das Recht, sie einzusperren, sie zu benutzen. Wir könnten teilen, wie es zum Beispiel die Kachimunias mit den Pomselbäumen machen, die sie mit den Menschen teilen, seit die Gottheit Mahmuna uns das Teilen beibrachte.“
Linda und Agi kannten diese Legende nicht und ließen sie sich von Mera erzählen.

Linda sagte nach einer Weile: „Und ihr wollt nun einen Rat von mir, nehme ich an? Ein wenig Drachenmut, oder so?“
Agi nickte, Mera lauschte gespannt.
„Nun“, sagte Linda und versuchte dabei sehr weise zu klingen, „Drachenmut braucht Mera nicht, den hat sie bereits. Was ihr helfen könnte, sind Verbündete.“
Linda überlegte. „Ihr müsst die Menschen überzeugen. Mit ihnen reden. So können sie Einsicht lernen. Wie damals bei Korri und Aavat. Auch ein langer Drachenflug beginnt mit Schritten am Boden. Ein großer norischer Busch ist zunächst nur eine Bohne. Und selbst der mächtigste Drache ist am Anfang nur ein Ei mit Ideen.“
Linda sah sehr zufrieden mit sich aus. „War ich gut?“

Mera stand auf und verbeugte sich. „Das waren sehr hilfreiche und liebe Worte. Habt Dank, Linda Udenberg. Darf ich so vermessen sein, Euch um einen weiteren Rat zu bitten?“
Linda legte neugierig den mächtigen Kopf auf die gekreuzten Vorderpfoten und sah Mera auffordernd an.

„Ich gab meinen Eltern ein Versprechen. Ich sagte, ich würde nur den einen Sonnenkreis fort sein. Ich versprach, heimzukehren, sobald meine Zeit im Tempel um sei. Ich habe mein Versprechen gebrochen, als ich beschloss, Akolyth zu werden. Ich könnte heimfahren, es versuchen, ihnen zu erklären. Aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft hätte, zurückzukehren.“
Von der Hohen Zyklania kam eine Zwischenfrage: „Zurückkehren zum Hof oder zurück zum Tempel?“
„Beides“, gab Mera zu.
Linda bleckte die Zähne, zu etwas, das unter Drachen als Lächeln galt.

„Dafür würde ich schon sorgen. Dass du heim kommst – und wieder zurück“, sagte Linda.
Agi schlug sich verstehend die Hände vor den Mund. Energisch schüttelte sie den Kopf. Linda ignorierte sie.

Linda sah Mera prüfend an:
„Wolltest du schon immer mal mit einem Drachen fliegen?“
Agi mischte sich ein, bevor Mera antworten konnte: „Das darfst du nicht!“
Es war unklar, ob sie damit Mera oder Linda meinte. Oder beide.

Von der Kunst, einen Drachen zu zäumen

Gerade hatte Mera erst gelernt, auf einem Stullich zu reiten. Nun sollte sie auch noch in die Luft gehen.
Mera hatte Angst. Und Agi schien vehement dagegen zu sein. Was sollte sie tun?
„Kann ich kurz darüber nachdenken?“, fragte sie.
Linda nickte zustimmend. Mera verließ die Höhle. Sie ging an den fressenden Stullichen vorbei, höher den Berg hinauf. Oberhalb der Höhle fand sie einen schrundigen großen Felsen, auf den sie kletterte und sich setzte. Ein scharfer Aufwind riss an ihrem Umhang und schob sich unter ihre kurzen Haare. Mera zog den Mantel enger um sich.

Der Blick ging von hier weit über die hügelige Landschaft, in der Ferne konnte sie Berge eines Gebirges erkennen, im Osten erstreckte sich das Meer bis zum Horizont. Im Süden lag ihre Heimat, viel zu weit entfernt, um auch nur einen Hauch davon zu ahnen. Sie hatten eine Semane bis Lunby gebraucht. Zurück würde es länger dauern, denn die Schiffe würden gegen den Strom segeln müssen oder gezogen werden. Wie es wohl wäre, zu fliegen? Von hier, fast oberhalb der Wolken, war es einfach, es sich vorzustellen.

Mera schätzte, sie würden fliegend eine Strecke in nur einem Tag schaffen, zurück auch in einem. Und sie hätte einen Tag mit ihren Eltern, um ihnen zu erklären, dass sie nun doch länger fortbliebe.
Sie würde ihre Eltern sehen. Und Biggi. Und die Kleinviecher.
Ja, sie würde fliegen.

Blieb nur ein Problem: Konnte sie verhindern, von Lindas Rücken zu fallen, und wie? Das würde sie mit Fey Efauna besprechen, beschloss Mera und stand auf, um ihren Entschluss ihrer Mater und Linda mitzuteilen. Aber erst musste sie ihre Blase leeren. Sie kletterte vom Felsen und verrichtete ihre Notdurft. Mera lächelte schief. Das war vermutlich der Abort mit der schönsten Aussicht von ganz Dazel, dachte sie.

Vor der Höhle traf sie Agi und Linda an, die auf sie gewartet hatten. Agi hatte inzwischen ihre Reittiere getränkt. Die Stulliche waren ausgeruht genug, um die Rückreise anzutreten.
Linda lächelte ihr Drachenlächeln. „Du wirst fliegen“, stellte Linda fest.
Mera lächelte zurück. „Ja, sieht wohl so aus. Habt Dank für euer großherziges Angebot. Habt Ihr schon einmal einen Menschen mitgenommen?“
Linda sagte: „Agi ist mit mir geflogen, damals in Flickaborghem. Ist leider nicht so gut ausgegangen. Ich war noch ungeübt im Fliegen – und im Landen. Wir waren beide zu jung.“
Linda sah sehr schuldbewusst aus. Agi Lugosvitta beschwichtigte: „Ich lebe ja noch, mach dir keine Vorwürfe. Wir waren beide leichtsinnig. Aber nun willst du Mera in Gefahr bringen. Ich glaube, das kann ich nicht erlauben. Ich bin für Mera verantwortlich. Falls Mera etwas passiert, ist das allein meine Schuld.“

An die Mater gewandt fragte Mera, die nun ahnte, woher die Behinderungen Agis stammten: „Wäre es vereinbar, dass ich ab übermorgen für drei Tage dem Tempel fernbleibe, Agi?“
„Was hast du vor, Mera?“
Mera sagte selbstbewusst: „Ich muss noch einiges vorbereiten. Wenn ich Sicherheitsseile verwende, so sicher, dass nichts passieren kann, wäret Ihr dann einverstanden?“
Agi zögerte. „Solltest du es tatsächlich schaffen, einen solchen Drachensattel herzustellen, und wenn wir das zuvor ausgiebig testen, dann überlege ich es mir noch einmal.“

Mera wandte sich an Linda: „Darf ich einige Messungen an euch vornehmen?“
Linda nickte zustimmend und neugierig. Mera nahm eine der Halfterleinen ab und führte sie den Brustumfang messend um Lindas Brustkorb. Sie notierte sich, wie oft sie die Leine ansetzen musste. Linda selbst bot an, dass Mera sich einmal zur Probe auf ihren Rücken setzen mochte. Eine Kuhle hinter den Schulterblättern stellte sich als idealer Reitsitz heraus. Mera hatte nun einen Plan.

Auf dem langen Ritt zurück zum Tempel begann Agi an einer Stelle, an der sie nebeneinander reiten konnten, von ihrem Flug mit Linda zu erzählen. Und von ihrem Sturz. Der Flug sei wundervoll und aufregend gewesen. Nur bei der Landung hatte sich Linda steil am Oberkörper aufrichten müssen, Agi hatte den Halt verloren und war den Drachenrücken hinunter gekullert, hatte sich am Boden etliche Male überschlagen. Das Knie und das Auge hatten das meiste abbekommen. Die größte Verletzung hatte jedoch ihr Stolz erlitten, vermittelte Agi ihre Gefühle von damals. Sie hatte ein Jahr gebraucht, um wieder laufen zu können, das Auge jedoch blieb so gut wie blind, die Narbe erinnerte sie jeden Tag an ihren Leichtsinn. Im Jahr darauf war sie zum Dienst im Tempel auserwählt worden, Linda war ihr gefolgt. Sie hatte darauf bestanden, sie müsse ihre Schuld bei Agi abtragen.

Mera fühlte sich durch die Erzählung nun noch mehr in ihrem Plan bestärkt. Sie fragte Agi noch verschiedene Sachen über das Flugverhalten, die Kräfte, die in der Luft auftraten. Und angesichts der Kälte hier oben in den Bergen, wäre es vermutlich eine gute Idee, wärmere Kleidung einzuplanen, auch wenn Mera nicht wusste, wie hoch so ein Drache fliegen konnte.

Mera fragte Agi, ob diese bereits am Nebeneingang absteigen wolle. Zum einen, weil somit der Mater der Fußweg von den Ställen zurück erspart bliebe und zum anderen, da sie selbst noch etwas mit Fey Efauna zu besprechen habe, das länger dauern könnte. Agi war einverstanden. Mera vergaß dabei nicht, ihre Mater wieder höflich mit Titel anzusprechen, da Akolythen in der Nähe waren. Agis deutliches Hinken, als diese abstieg, ihr die Zügel in die Hand drückte und mit ihrem Gepäck zum Eingang schritt, sprach sehr für Meras Eingebung. Um Agis Stullich würde Mera sich kümmern..

~

Fey Efauna erwartete Mera schon ungeduldig. Sie hatte an eine Decke einen verstellbaren Lederriemen genäht. Mera nahm zuerst das Zaumzeug von den Stullichen und ließ sie auf der Wiese frei, wo diese sich ausgiebig wälzten. Dann probierte Mera die Fußschlaufen aus, die Fey Efauna bei Ponhi umgeschnallt hatte. Von einer Bank aus stieg Mera vorsichtig auf Ponhis Rücken. Welche Erleichterung die Stütze an den Füßen doch war. Mera ließ Ponhi eine Runde um den Hof traben und glitt dann wieder hinunter. Sie war heute genug geritten.

Fey Efauna strahlte. Das war eine schöne Neuerung.
„Morgen nähe ich an alle Decken diese Schlaufen“, sagte sie begeistert.
Mera dachte bei sich: Wetten, das wird sie nicht? Und laut fragte sie: „Habt ihr schon einmal ein Drachenzaumzeug gebastelt? Ich bräuchte eines für übermorgen.“

In der Tat verschwendete die Fey keinen einzigen Gedanken mehr an Stullich-Fuß-Schlaufen. Drachenzaumzeug? Das war mal eine Herausforderung. Bis spät in die Nacht saßen Mera und Fey Efauna über Maßen und Plänen. Irgendwann fielen Mera beinahe die Augen zu. Die Stallmeisterin schickte sie ins Dormitorium.

Dort warteten Falaner und Yoralou mit einer Nachricht der Hohen Zyklania auf sie. Agi hatte in dieselbe Richtung gedacht, wie Mera. Sie hatte Yoralou und Pietje benachrichtigen lassen, dass Mera in die Heimat aufbrach und sie doch Briefe an die Elternteile schreiben könnten, wenn sie das möchten. Mera würde sie mitnehmen. Mera liebte diese Frau von ganzem Herzen. Wie einfühlsam sie war. Ihre Rührung verschwand umgehend, wurde ersetzt von einem ungläubigen Erstaunen, als sie erkannte, dass Agi ihren Feydahn mal eben so verschwiegen hatte, auf welche Art Mera vermutlich reisen würde.

Falaner fragte nämlich: „Mit welchen Schiff wirst du abreisen? Du kommst doch wieder?!“
Mera sah sie schelmisch an. „Ich reise übermorgen und bin drei Tage später wieder zurück.“
Mera grinste breiter, als sie den synchron leeren Gesichtsausdruck bei Yoralou und Falaner sah. „Ich werde fliegen. Auf einem Drachen. Wenn die Mater es erlaubt.“

~

Am nächsten Tag landete Linda im Tempel-Park bei den Ställen. Die Akolythen und Feys, Aspiranzen und Küchenpersonal liefen zusammen – alle wollten den Drachen sehen. Mera bemerkte, dass einige der Mädchen in Hosen erschienen waren – und einige der Jungen trugen Röcke. Nur ein paar der älteren Fey machten saure Gesichter deswegen. Besonders Agis Stellvertretung, Fey Beliza, stand mit missbilligend zusammengekniffenen Lippen da. Fey Efauna trat aus der Stalltür. Auch sie hatte Hosen an.
Mera lächelte.

Fey Efauna hatte einen Prototypen gebastelt. Linda ließ sich willig das Harnisch überstreifen und anpassen. Mera setzte sich in die Schultergrube. Leinen zur Fußfesselung wurden angepasst. Einen zweiten Harnisch, der an die Gurte des Drachen geschnallt wurde, würde Mera tragen. Sodass nicht nur ihre Beine sicher fixiert waren, sondern auch für alle Fälle ihr Körper gegen das Herunterfallen gesichert wäre. Es sollte noch eine Panik-Koppelung eingebaut werden, beschlossen Fey Efauna und Mera. Damit sich bei einer möglichen Gefahr die Verbindung schnell lösen ließe.

Am Abend war alles bereit für einen Probeflug. Mater Lugosvitta begutachtete alle Sicherungen mehrfach, dann gab sie ihr Einverständnis. Linda bestätigte, dass keiner der Gurte drückte oder sie behinderte. Mera stieg auf und schnallte sich fest. Sie verweigerte dabei jede Hilfe. Schließlich, so ihre Überlegung, musste sie das unter allen vorstellbaren Umständen ja auch alleine anlegen können. Fey Efauna scheuchte die Zuschauenden aus der Bahn und Linda nahm Anlauf. Ein paar schnelle Schritte, die Flugmembranen ausbreitend, den Wind einfangend, hob sie ab. Mera wurde zwar durchgerüttelt und hielt sich krampfhaft an den Leinen fest, was gar nicht nötig war, denn die Gurte hielten sie auf ihrem Platz. Wieso nur hatte sie dieser absurden Idee je zugestimmt?
Und dann waren sie in der Luft.

Fasziniert beobachtete Mera, obwohl ihre Augen zu tränen begannen, wie die fluffigen grünen Schuppen Lindas im Flugwind tanzten. Linda schraubte sich in einem Aufwind immer höher. Hier oben war es tatsächlich sehr viel kälter. Mera würde sich dick einmummeln für den morgigen Flug, beschloss sie. Linda flog Schleifen und Achten, einmal sogar einen Looping. Mera jubelte. Freiheit. Obwohl sie fest angeschnallt war, fühlte sie sich so frei wie noch nie in ihrem Leben.

~

Nach dem erfolgreichen Jungfernflug hatte Agi keine Einwände mehr. Die Reise durch die Luft schien auch ihr nun sicher genug zu sein. Linda bat, doch auch eine Gepäckmöglichkeit zu erwägen, damit sie einige der norischen Nierenbohnen als Proviant mit auf die Reise nehmen konnte. Als auch das angepasst war, packte Mera ihre Ausrüstung zusammen, die Briefe, die Yoralou und Pietje ihr mitgaben, sicher verwahrt ganz zuunterst. Pietje hatte einige Ansichten von ihrer Reise, von Lunby, dem Fluss, dem Meer und dem Tempel beigefügt, damit die Lieben zuhause sehen konnten, wo ihre Kinder nun lebten. Fey Efauna hatte mit Filip zusammen die ganze Nacht an einer Konstruktion für Meras Augen gebastelt. Der junge Akolyth war trotz seiner beeindruckenden Körpergröße ein begnadeter Feinbastler mit einer unerreichten Geduld. In einen ledernen Rahmen war durchsichtiges Glas eingenäht, das Meras Augen schützte, ihr aber freien Durchblick ermöglichte. Sie war gerührt. Mera saß auf, schnallte sich an.

Sie flogen noch zu Lindas Höhle, um die Gepäcktaschen mit Bohnen zu füllen und dann hieß es: Heim, Richtung Süden.
Meras Herz schlug wie wild. Sie war unterwegs, sie würde nach Hause fliegen. Unter sich fühlte sie den Drachenkörper. Die sich rhythmisch bewegenden Muskeln. Der gleichmäßige Herzschlag Lindas. Mera wurde ruhiger. Unter ihnen glitzerten die Fluten des großen Monostroms dem Ozean entgegen. Mera breitete die Arme aus. Spürte den Wind an sich zerren. Frei wie ein Drache, dachte sie. Im nächsten Moment riss ihr der Wind beinahe einen Handschuh von den Fingern. Zum Glück hatte Fey Efauna daran gedacht, die Fäustlinge ebenfalls mit Schnüren an der Kleidung zu befestigen. Mera lächelte in ihren dicken Schal unter dem hochgeknöpften Mantelkragen. Sie war einfach nur glücklich. Alle Angst war verflogen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mera lächelte noch breiter.

Morphen

Zwei Sonnenkreise später. Der Tag hatte schlimm begonnen. Im Tempel wurde das große Fest der Mondgöttin Dom vorbereitet, das nur alle fünf Sonnenkreise stattfand, wenn die Monde Phob und Deim mit der Sonne am Horizont erschienen und gemeinsam über den Himmel am Mondberg zogen. Ein Komitee war eingesetzt worden, das die Feierlichkeiten organisieren sollte. Traditionell wurde geplant, ein Singspiel aufzuführen – zwei männliche Akolythen sollten die Monde darstellen, eine Akolyth die Mondgöttin. Drei wurden in die engere Wahl genommen, darunter Yoralou und Mera.

Mera lehnte ab. Das Komitee verlangte eine Begründung, da es doch eine Ehre für alle Mädchen sein müsse, der Göttin auf diese Weise zu dienen. Mera verweigerte sie. Mera provozierte mit der Gegenfrage, warum sie nicht Phob oder Deim spielen könne. Die Diskussion war hitzig gewesen. Daraufhin lehnte die dritte Kandidatin solidarisch ab, Mera recht gebend. Am Ende sollte Yoralou die Rolle übernehmen, die sich ebenfalls weigerte.
Zu ihrer aller Überraschung war Filip vorgetreten und hatte gebeten, die Rolle der Göttin übernehmen zu dürfen. Bevor die Diskussion eskalieren konnte, hatte die Hohe Zyklania eingegriffen und alle Beteiligten für den nächsten Tag einberufen. Das Ergebnis der Diskussion war also noch offen.

Später am Morgen hatte Mera eine Lernaufgabe, an der sie wochenlang recherchiert und gearbeitet hatte, mit dem Vermerk zurückbekommen, ihre Ausführungen wären Blasphemie und ihre Arbeit könne nicht gewertet werden. Schon Meras selbstgewählter Titel der Aufgabe: Warum die Monde Phob und Deim nicht nur männlich interpretiert werden dürfen hatte Anstoß bei Fey Beliza erregt und Mera war sich sicher, dass ihr Text nicht einmal gelesen worden war.

Schließlich war Mera noch auf einen Streit zugekommen, in den Falaner geraten war. Eine ältere Fey hatte Falaner, nun auch schon Fey im zweiten Sonnenkreis, zu maßregeln versucht. Falaner war gesehen worden, wie sie ihre Partnerin, die außerhalb des Tempels wohnte, geküsst hatte. „Mädchen machen so etwas nicht untereinander!“, hatte die ältere Fey gesagt. Falaner, in den letzten Mischans selbstbewusster geworden, hatte ihre Position vehement verteidigt.
Andere waren hinzugekommen, Falaner unterstützend. Es stellte sich heraus, dass es etliche gleichgeschlechtliche Paare unter den Akolythen und sogar unter den Fey gab, und einige, die mehrere Beziehungen hatten. Es war, als wäre eine unsichtbare Wand aufgebrochen worden. Die Menschen versteckten nicht länger, wer sie waren. Im Tempel brodelte es. Selbst in Lunby waren seit Semanen Diskussionen zu den Themen entbrannt. Mera wurde von allen Seiten um Rat und Stellungnahme gebeten.

Müde und überreizt machte sich Mera, nach ihrer Arbeit bei den Ställen, am späten Nachmittag auf den Weg zum abgelegensten Teil des Tempelgartens, um dort Pan zu treffen.

~

„Nein, nein, nein, so geht das nicht.“ Pan war frustriert. Seit Semanen und Mischans versuchte em nun schon, Meras das Morphen beizubringen. Das wenige, an das em sich erinnerte, an sie weiter zu geben. Es klappte nicht. Sie konnte ihren Körper immer noch nicht verändern. „Du bist inzwischen 16 Sonnenkreise alt. Das muss doch irgendwann funktionieren! Konzentriere dich. Sei ein braves Mädchen.“
Mera lachte bitter auf. Pan also auch noch. „Pan, ich bin kein Mädchen. Hast du das noch nicht gemerkt!? Ich bin anders…“

„Das verstehe ich nicht“, gab Pan zu. „Was meinst du mit ‚Ich bin anders‚?“
Mera suchte nach Worten. „Ich bin… nicht nur Frau, verstehst du? Ich habe auch viel Männliches an mir. Mein Geschlecht ist nicht… nur eins von beidem.“
Wie ein Schock traf Pan die Erkenntnis, als lange verschüttete Erinnerungen ems Denken überfluteten. Mera hatte, weil sie astral verschmolzen waren, Zugang zu jeder der nun einsetzenden Erinnerungsfetzen ihres Anam Cara. Gemeinsam mit Pan sah sie in die Vergangenheit Pans.

„Pan“, sagte Pans Schowenga, „wir von Plutor sind geschlechtslose Wesen, wie du weißt.“
Pan, sehr jung noch, unterbrach vorlaut: „Aber wie vermehren wir uns, Schowenga?“
„Das ist sehr kompliziert. Du bist noch zu jung, um zu…“
„Ich gehe bald auf die Geistreise, sagt mein Elter, da sollte ich doch wohl wissen, was auf mich zukommt!“, beharrte Pan störrisch.
Pans Schowenga blieb verschlossen. „So bald noch nicht Pan. Das erzähle ich dir, wenn du älter bist.“

Ein älteres Ich von Pan blitzte durch die Erinnerungsbilder.
„Du meinst, durch das Morphen bekomme ich temporär eine binäre Existenz? Nur so werde ich mich fortpflanzen, Schowenga?“
„Korrekt. Unser Dasein beruht auf der Fähigkeit des Morphens. Wir können unsere Körper anpassen. Voraussetzung ist die astrale Verschmelzung mit einem binären Wesen. Finde zuerst ein anderes Wesen auf Arsadun, mit dem du geistig kompatibel bist. Und dann eine oder einen Arsaduni, mit dem du die Verschmelzung eingehst. Jenes Geschlecht bestimmt, welche Funktionen deines Körpers hernach beim Morphen bevorzugt werden. Und dann kommt die Zeit der Verpaarung mit einem ebenfalls gemorphten Plutoran. Wir reproduzieren uns nur ein einziges Mal.“
„Und wenn ich das nicht will? Was passiert nach dem Morphen? Was ist, wenn ich die Reproduktionsperson, die mir zugeteilt wird, nicht mag?“, wollte das Vergangenheits-Pan wissen.
Die Rückblenden verblassten an dieser Stelle.

Das Kachimunia atmete heftig.
„Was bedeutet das alles, Pan?“, wollte Mera verwirrt wissen.
„Warte kurz, wir müssen uns erst beruhigen“, sagte Pan und meinte damit nicht nur den Körper der Flugratte.
Als das Tier ruhiger wurde, hatte auch Pan sich wieder gefasst.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was falsch ist. Ich hatte vergessen, dass die Menschen von Arsadun nicht morphen können, so wie wir Plutorans. Die ganze Zeit fragte ich mich, warum ich nicht zurück in meinen Körper nach Plutor konnte. Ich denke, ich weiß es nun wieder. Nach der Verschmelzung sollte mein Geist mit meinem Körper Kontakt aufnehmen und mein Morphprozess würde automatisch beginnen, gespeist durch deine geschlechtliche Identität. Aber du bist ja genauso nicht-binär wie ich. Das konnte gar nicht funktionieren! Wie konnte ich das übersehen haben? Und vor allem: Wieso hat niemand auf Plutor die Möglichkeit gesehen, dass eine Verschmelzung mit einem nicht-binären Menschen auf Arsadun passieren könnte?“

Mera nickte, nicht ganz sicher, ob sie Pans Ausführungen folgen konnte, hatte aber noch andere Fragen: „Wo ist eigentlich dieses Plutor?“
Pan antwortete: „Nicht nur wo, sondern wann. Wir sind die zukünftige Welt Arsaduns. Du hast das hoch technisierte Plutor in meinen Gedanken gesehen, es war eine Entwicklung von Jahrhunderten. Wir Plutoran sind in der Lage, Dimensionstore zu öffnen, auf Metabasis unseren Geist durch Raum und Zeit wandern zu lassen. Wir haben uns so viel weiter entwickelt, die Menschen und die Technik. Wir sind eins Arsadun und Plutor, und doch Äonen voneinander getrennt.“

Mera dachte lange über diese Aussagen nach. Sie verstand kaum die Hälfte der Begriffe, hatte jedoch zudem zielführende Überlegungen in eine ganz andere Richtung.
Daher sagte sie, ihr Gesicht in Pans Fell vergrabend. „Ich habe auch eine Theorie. Es kann nicht nur an meinem nicht-binären Dasein liegen, dass dir die Rückkehr nicht gelingt. Ich glaube, du hast Angst vor der Veränderung, die du nicht willst.“
Sie schwieg kurz, um ihre Gedanken zu sammeln. „Mein Körper, mein Sein, alles was ich bin, ist in Ordnung wie es ist. Das bin ich. Mera. Ich möchte niemand anderes sein. Ich habe Brüste und einen Penis, und das ist völlig in Ordnung. Ich liebe, wen ich mag. Nie würde ich mich außerdem auf eine Rolle reduzieren lassen, die nur die Wahl zwischen Mann oder Frau lässt. Vielleicht ist es bei dir ähnlich?“

Pan war verblüfft. „So habe ich das noch nie betrachtet. Abgesehen von dem Teil, den ich bis eben vergessen hatte – ich will überhaupt nicht in einen binären Körper morphen. Du hast völlig recht. Ich werde darüber meditieren müssen.“

Pans Astralstimme zog sich aus Meras Kopf zurück. Em sortierte ems Ängste und Erwartungen, bündelte sie geordnet zu Willensbahnen, auf denen ems Geist, es mochte Stunden darüber vergangen sein, oder nur Minuten, em wusste es nicht, zurück in ems Körper fand.

Pan schlug die Augen auf, ems eigene Augen, und sah auf einem Bildschirm in das sorgenvolle Gesicht ems Schowenga, auf einem weiteren Monitor war ems Elter erschienen. „Bei der Verschmelzung! Pan, du hast es geschafft!“, sagte dieses froh.
„In welches Geschlecht wirst du dich morphen?“, wollte Pans Schowenga ungeduldig wissen.
„In gar keins“, erwiderte Pan ruhig. „Ich habe mein Anam Cara gefunden. Mera, nicht binär. Wie ich. Ich bin Pan. Und das will und werde ich bleiben.“

Ein Zoo ohne Tiere

„Agi, wir essen keine Tiere. Aus Respekt. Seit vielen, vielen Dekaden von Sonnenkreisen ist das so auf ganz Arsadun. Warum aber sperren wir Tiere in Käfige?“
Da um diese abendliche Zeit im Tempelgarten niemand in Hörweite war, sprach Mera die Hohe Zyklania mit ihrem Vornamen an. Mater Lugosvitta hob theatralisch die Schultern. Sie sah zu ihrem Parder hinüber, der hingebungsvoll an Hullerbuschblüten schnupperte. Mera zeigte auf die Katze: „Selbst Feline ist nicht eingesperrt, was noch nie zu Problemen geführt hat. Na gut, Feline ist vielleicht ein schlechtes Beispiel“, gab Mera zu, der durchaus bewusst war, dass Feline alle Tiere des Zoos liebte und sie höchstens liebevoll abschlecken würde, bis sie gründlich nass waren.

Die Mater schien noch nicht überzeugt: „Aber wie finden die Tiere Nahrung, wenn wir sie freilassen?“
„Die kommen klar. Auch ohne uns. Aber wir müssen ja nicht aufhören, uns um sie zu kümmern. Die können ja trotzdem gefüttert werden. Die Tiere entscheiden selbst, ob sie das wollen. Wir könnten Paten suchen, die sich jeweils um die Freigelassenen kümmern.“

Sie waren vor der Voliere mit dem Kachimunia stehen geblieben. Es dämmerte, das Tier begann sich zu regen. Normalerweise wäre es nun aufgebrochen, um in den Wäldern nach Nahrungsbäumen zu suchen. Hier flatterte es kurz, zwei Flügelschläge bis zum Futtergestell, hängte sich dort auf und begann zu fressen.
Aus den Wäldern der Umgebung kam Pan herangeflattert. Em hängte sich in den Baum neben der Voliere. Offensichtlich hatte Pan beschlossen, sich nun zu zeigen. Gut so, ein Geheimnis weniger, dachte Mera.

„Sieh nur, Mera, ein wildes Kachimunia!“
Mera korrigierte: „Wild schon einmal gar nicht. Es gibt keine ‚wilden‘ Tiere. Nur weil sie ungezähmt sind, uns nichts nutzen, sind sie nicht automatisch ‚wild‘ Das ist so abwertend. Die leben einfach nur frei und unabhängig von uns.“
Agi sah sie nachdenklich an. „Und schon wieder lernt die Lehrende von der Lernenden. Ich korrigiere: ein freies Kachimunia!“ Sie ergänzte: „Du bist mir mehr Feydahn als lediglich Akolyth zu sein.“

Pan nörgelte in Meras Gedanken: „Lässt du es nun raus oder soll ich das machen?“
Als Mera nicht reagierte – sie überlegte, ob sie Agi und Pan einander vorstellen sollte, hangelte sich Pan zur Käfigtür, nestelte daran herum und öffnete sie.
Agi stieß Mera an: „hast du das gesehen?!?“

Mera schaute auf. „Ach lasst nur, Pan weiß was em tut. Em wird auf das Kleine aufpassen. Morgen früh bringt em es wieder her.“
Mater Lugosvitta blickte von Pan zu Mera. „Em? Pan? Du hast ihm einen Namen gegeben.“
„Falsch“, sagte Mera, „nicht ihm. Das Pronomen ist em. Und Pan ist ems Name.“
Pan schickte Mera einen amüsierten Gedanken. ‚Überfordere sie nicht‘.
Mera antwortete, laut, damit auch die Mater verstand, was sie zu Pan sagte: „Dann komm halt her und sag selbst Hallo, wenn du möchtest.“
Pan hangelte sich außen am Käfig entlang, bis em auf Augenhöhe hing. Feline reckte sich am Käfig hoch, um der Flugratte über die Schnauze zu lecken. Pan kletterte lieber außer Reichweite der rauen Zunge.

„Und ich dachte, ich kenne dich inzwischen“, sagte die Hohe Zyklania verblüfft.
Mera zögerte noch einen Moment, was sie erzählen wollte. Aber was hatte Linda damals gesagt: ‚Such dir Verbündete‘.
„Agi, da gibt es noch so einiges, was Ihr nicht über mich wisst.“

Sie setzten sich auf eine Bank vor dem Gehege. Sie sahen Pan und dem kleinen Kachimunia aus dem Gehege nach, die zum nächsten Baum flatterten und dort Flugrattendinge taten. Mera begann von Pan zu erzählen, von der astralen Verbindung, ein wenig von Plutor, soweit sie es selbst verstanden hatte. Mera wagte es sogar, etwas von ihrer Identität zu offenbaren. Vielleicht war es leichtsinnig. Vielleicht sogar ein wenig zu viel Information auf einmal. Aber wenn Agi sie als ihre Feydahn betrachtete, dann sollten sie keine Geheimnisse voreinander haben.

Als Mera endete, blickte Agi sie seltsam an. „Das mit der Ratte, das hast du dir nicht ausgedacht, oder?“, fragte Agi nach.
‚Warte mal, ich mach das‘, hörte Mera Pans astrale Stimme.
„Wenn Ihr mir nicht glaubst, dann glaubt Pan“, meinte Mera beinahe ärgerlich.

Pan landete dicht bei den beiden, kritzelte mit der Kralle geografische Symbole in den Sand des Weges, die bei der Dunkelheit, die inzwischen herrschte, kaum zu erkennen waren, und schrieb noch ems Namen dazu. Pan blickte Agi intensiv an, krabbelte schwerfällig zum Käfig, kletterte ein Stück hoch und startete von dort erneut zu seinem Baum.

Agi war die Erschütterung deutlich anzusehen.
Mera nutzte die Gelegenheit: „Die Tiere müssen aus den Käfigen, Agi. Wir haben kein Recht, sie einzusperren, ihnen die Freiheit zu nehmen. Stimmt Ihr mir zu?“
Die Hohe Zyklania fasste sich wieder, räusperte sich. „Ja, natürlich. In dieser Angelegenheit hast du meine volle Unterstützung.“ Agi lächelte. „Hattest du eigentlich schon zuvor, trotz meiner Zweifel, aber nun bin ich ganz überzeugt. Wir werden das morgen in der Ratssitzung beschließen, da bin ich mir ganz sicher. Fey Efauna ist noch etwas unentschlossen, Fey Alrube ist auf unserer Seite und Fey Beliza wird akzeptieren, was beschlossen wird. Die Käfige werden geöffnet werden.“

Mater Lugosvitta überlegte kurz. „Am besten machen wir das ganz und gar unspektakulär, öffnen einfach beiläufig die Käfigtüren, ohne große Feier?“
Mera stimmte zu. „Das wäre das Beste für die Tiere. Morgen nach der Sitzung.“

Agi sagte eine Weile nichts mehr und auch Mera schwieg. Es stand noch mindestens ein Thema im Raum, zu dem sich Agi noch nicht geäußert hatte. Mera hatte Geduld. Sie hatten schon so viel erreicht. Das war ja eine Sache, die bestimmt nur sie allein betraf, das konnte warten, dachte Mera. Hinter der Voliere ging Phob auf, Deim würde erst in einer Stunde dazukommen.

„Bei der Göttin Dom, gepriesen sei ihr Name, es ist spät geworden. Wenn die morgige Sitzung ein Erfolg werden soll, muss ich mich nun ausruhen.“
Die Mater erhob sich. „Begleitest du mich zurück zum Tempel, oder möchtest du bei deinem Anam Cara bleiben?“, fragte Agi.

Mera schaute zu den beiden Kachimunias hinüber, die sich annähernd lautlos flatternd durch den Park bewegten, hier ein paar Pomsel naschten, dort Biramellen nagten und sich selbst offensichtlich genug waren. „Ich komme mit“, sagte Mera. Beiläufig bot sie Agi ihren Arm an. Agis Hand lag leicht und warm auf ihrer, wie Mera überdeutlich spürte. Wie schön sie ist, dachte Mera. Die Zyklania strahlte auf eine eigene magische Art, in ihrem weißen Kleid, mit den weißen Haaren.

Für einen Moment hatte Mera die Vision, dass sie beide Hand in Hand unten am Strand entlang liefen, ihre Kleider zurücklassend Richtung Meer gingen und… Verwirrt schüttelte Mera den Kopf. Das waren nicht ihre eigenen Gedanken. Oder doch? Mera hörte Agi tief ausatmen, es klang wie ein leises, resigniertes Seufzen.

Während sie in einvernehmlichem Schweigen nebeneinander gingen, sortierte Mera die empfangenen Gedankenbilder und ihre eigenen auseinander. Agi konnte und würde niemals Meras vage Sehnsüchte erwidern, es würde von Agis Seite aus keine romantische Beziehung geben. Weder lag es in der Natur der Mater noch durfte es ein solches Verhältnis zwischen ihnen geben.

Ihre Zyklania hatte jedoch einen Moment lang – jener Moment, in dem Mera voll Zuneigung und Liebe an Agi gedacht hatte – gespürt, was Mera sich möglicherweise uneingestanden wünschte. Aber Agi war auch klar geworden, dass Mera sie niemals mit ihren Gefühlen bedrängen würde.
In Mera blieb ein warmes Empfinden zurück, als sie sich noch einmal in die gedankliche Verbindung zurückfühlte. Sie beide verband nichtsdestotrotz eine tiefe Feydahnschaft, die fast an die Beziehung zwischen Pan und Mera heranreichte. Dies waren Agis Gefühle ihr gegenüber, erkannte Mera. Agi betrachtete sie also als eine Art Anam Cara. Das zu wissen genügte ihr.

Der Fußweg war mit hellem Stein gebaut worden, unter den Büschen glommen Leuchtschwämme. Singende Krabbler flöteten Melodien in die Nacht. Feline huschte als grauer Schatten neben ihnen her. Langsam schritten die Beiden in Richtung der Tempelmauern. Ab morgen würde es in diesem Park nichts Eingesperrtes mehr geben. Falls nicht doch noch etwas Überraschendes in der Ratssitzung beschlossen wurde.

~

Sie gingen von Käfig zu Käfig. Eine Delegation aus Fey, Akolythen und Aspiranzen. Alle Gehege wurden geöffnet. Selbst die Voliere mit Hunin und Mugin, die der Mondgöttin geweiht waren.
Vor den Gehegen wurden Futtergaben abgelegt. Die Tiere konnten selbst entscheiden, ob sie im Tierpark bleiben wollten. Im Speisesaal trafen sich alle Bewohner des Tempels zu einem Fest. Fey Efauna weinte ein wenig, denn ihre Tierparkpflichten betrafen ja jetzt nur noch die Stulliche, Hahnten, Rinnos und Zigots. Sie hatte trotzdem für die Freilassung der Tiere gestimmt.

Die Debatte war noch einmal heftig geworden, weil Nutztiere die Ausnahme von der Freilassung bleiben sollten. Sie waren zu wichtig für die Menschen. Erst als ein Kompromiss gefunden wurde, diesen Nutztieren mehr Raum als bisher zu geben, mehr Fläche, mehr Möglichkeiten zu leben, wie es der jeweiligen Art entsprach – und darüber zu forschen –, wurde ein Konsens hergestellt und der Beschluss war ohne Gegenstimme gefasst worden, mit einer Enthaltung.

Am nächsten Morgen war ein Teil der Parktiere verschwunden. Sie blieben jedoch in der Nähe, um sich am täglich ausgelegten Futter satt zu fressen. Und dann geschah, was sich Mera erhofft hatte – es kamen andere Tiere in den Park, die nicht eingesperrt gewesen waren, die freien Tiere der Umgebung. Im Tempel wurde ein neuer Lernzweig für Tierpatenschaften eingerichtet, der sich der Erforschung des Verhaltens unter freien Bedingungen widmete.
Ein paar Mischans später waren auch die letzten Zweifelnden verstummt. Die Menschen im Tempel hatten ihren Frieden mit den Tieren gemacht.

Entzauberung

Linda setzte zur Landung im Tempelgarten an. Mera, wie immer mit einem Rudel anhänglicher Tierchen unterwegs, kam gerade von der neuen Teichanlage. Zu Ehren der Mondgöttin Dom hatte Fey Efauna zusammen mit Filip, der nun als freie Hilfskraft im Tempel arbeitete, einen Komplex von Mondteichen, mit Leuchtalgen darin geplant, und anlegen lassen. Loxflosser sorgten dafür, dass die Algen nicht überhand nahmen. Wer immer von den Bewohnern des Tempels Zeit fand, nutzte diese zur Meditation dort oder einfach nur zur Betrachtung. Tagsüber, wenn die Witterung es erlaubte, waren Kunstschaffende dort mit Projekten beschäftigt, einige hatten wundervolle Skulpturen geschaffen. Das Plätschern des Wassers empfanden sie als inspirierend. Aber besonders nachts, wenn Algen, Fische und Flugechsen leuchteten, war diese neue Ecke des Parks ein Anziehungspunkt für alle. Und nun kam Mater Lugosvitta auf einem Drachentier von einem Außenposten des Ordens zurück.

Mera hielt einen Ärmel ihrer Tunika vor das Gesicht, weil Lindas Flügelschlagen bei der Landung Staub und Blätter aufwirbelte. Akolythen eilten von den Ställen herbei, brachten Wasser für den erschöpften Drachen und einige norische Nierenbohnen aus dem ebenfalls neuen Bohnen-Gewächshaus. „Ach, ihr Lieben, das ist ja ganz zauberhaft“, bedankte sich Linda bei ihnen. Anschließend war sie nur noch mit den Bohnen beschäftigt. Sie musste wirklich sehr viel aufholen. Der Flug war lang gewesen.

Mera trat zur Sitzsenke hinter den Drachenschultern und half der Mater mit geübten Griffen, sich aus den Sicherungsseilen, dem Harnisch und der gepolsterten Überkleidung zu befreien. Die Hohe Zyklania strahlte ein Lächeln aus, das besagte, sie sei unendlich froh, wieder ‚zuhause‘ zu sein, Mera zu sehen, und vor allem, dass sie den Flug genossen hatte. Das lange angeschnallte Sitzen auf dem Drachenrücken hatte allerdings einen Preis. Steif hangelte sich Agi aus dem Sitz und ließ sich dankbar von Mera auffangen. So unterstützt humpelte Agi zu einer Sitzbank am Weg. Aufatmend ließ sie sich auf die Ruhebank fallen. Mera zog nacheinander Agis Beine zu sich auf den Schoß, massierte und dehnte ihr die Beinmuskeln, damit die Blutzirkulation wieder in Gang kam.

„Der Park sieht so wundervoll aus von oben. Und überhaupt ist es einfach unbeschreiblich zu fliegen“, sagte die Mater enthusiastisch. Sie stand wieder auf, um ein paar Dehnübungen an der Bank zu machen. Endlich wollten ihre Beine wieder so, wie sie sollten. Agi richtete sich auf. „Dass du mir das ermöglicht hast, dass ich unbeschwert, wie früher, wieder mit Linda zusammen sein kann – und sogar fliegen kann, dafür gibt es nicht genug Begriffe!“ Überschwänglich drückte sie die verdutzte Mera an sich. Einige Akolythen schauten überrascht auf. Mera ließ lächelnd die Umarmung zu. Sie konnte die Euphorie ihrer Mater nur zu gut verstehen. Das da oben in der Höhe war eine Welt, die zu erleben nur mit der Ekstase in der Andacht für die Göttin Dom vergleichbar war.

„Mater Lugosvitta, Ihr seid rechtzeitig zurück. Die Vorbereitungen für die Übergangsfeier der Akolythen, die Fey werden wollen, sind weit gediehen“, sagte Mera, die Mater nun doch sanft von sich schiebend. Einige Akolythen hatten inzwischen den Harnisch des Drachen abgeschnallt. Mera und Agi sahen dem Drachentier nach, wie es den Akolythen, die gesamte Flug-Ausrüstung samt Mantel und Schutzbrille mit sich nehmend, satt und müde zu den Ställen hinterher schlurfte, um sich dort über Nacht für den morgigen Rückflug zur Drachenhöhle gründlich auszuruhen.

Agi wiederholte fragend Meras Satz: „Akolythen, die Fey werden wollen…?“
Sie sah Mera prüfend an. „Oho, das klingt mir ganz so, als wärst du noch im Zweifel, ob du Fey werden möchtest“, sagte die Mater. „Komm. Lass uns das auf dem Weg zum Speisesaal besprechen, wenn du möchtest. Ich habe einen Drachenhunger.“ Mera sortierte sich auf der Seite Agis ein, die jener das Sehen mit dem unverletzten Auge ermöglichte, eine kleine Geste, über die sie kaum nachdenken musste. Es war für Mera selbstverständlich geworden. Agi hakte sich bei Mera unter.

„Die Zweifel waren immer da, haben nie aufgehört, Agi.“ Sie waren allein auf dem Weg, deshalb konnte sich Mera die vertrautere Anrede erlauben. „Eher sind sie gewachsen. Besonders nachdem, was ich kürzlich durch Pans Augen sah. Ich stelle nun nichts weniger als unseren gesamten Kult infrage. Außerdem – Ihr wisst, dass ich keine Ordensschwester werden kann. Der Orden nimmt noch keine Männer auf – und bestimmt niemanden wie mich.“

Die Hohe Zyklania sagte: „Das habe ich auch schon überlegt, das muss sich unbedingt ändern. Da geht so viel verloren. Ich meine, da bilden wir umfassend jahrelang junge Menschen aus – und dann verzichten wir auf das Potential eines Großteils von ihnen?“

Nachdenklich runzelte Mera die Stirn: „Das kommt hinzu. Wieso sollen nur Ordensschwestern den Kult der Mondgöttin leben können? Und grundsätzlich: die Auslegung, was Mann und Frau zu sein hat, das geht irgendwie nicht mehr. Seht zum Beispiel mich an – ich hatte bisher nicht einmal einen Namen dafür, was ich bin. Eine Frau bin ich nicht wirklich, aber auch kein Mann. Ich weiß nur, dass ich Mera bin. Auf Pans Welt gibt es überhaupt keine geschlechtliche Einteilung mehr.“

Sie schwieg kurz und meinte dann: „Es gibt übrigens etliche ähnliche Menschen wie mich. Und sie werden laut, wollen gesehen und gehört werden. Ich weiß inzwischen seit längerer Zeit, dass einige von den Akolythen, den Fey und auch bei den Aspiranzen sich nun als das zu erkennen geben, was sie sind. Nicht was die Hevianna oder ihre Familie oder wer-auch-immer gesagt haben, das sie zu sein haben. Dieses Bild, dass die Gesellschaft lediglich aus Mann und Frau besteht, stimmt nicht mehr mit dem überein, was in der Wirklichkeit längst gelebt wird.“

Mera suchte nach Exempeln: „Schau dir beispielsweise Fey Benra an, Ihr erinnert euch, Yoralous Giswestar. Fey Benra möchte in Zukunft endlich als Mann angesprochen werden, weil er das eigentlich schon sein Leben lang ist. Der Tempel-Rat hat eine Sondersitzung deswegen angesetzt. Der Rat sagt, dass es nicht sein darf – weil es bislang die Regeln verbieten, dass ein Mann Fey werden kann.
Akolyth Ritanli war bisher im Tempelregister als Mann eingetragen – sie möchte gerne Fey werden, weil sie eine Frau ist. Die beiden haben ihre Klage zusammen verfasst. Es gibt viel Unterstützung inzwischen. Es haben sich sogar einige der älteren Fey zu Wort gemeldet, die erklärt haben, dass sie weder Mann noch Frau sind und sie sind trotzdem brauchbare Fey geworden.
Ich bin nicht mehr alleine, Agi! Auch wenn ich bisher dachte, nur körperliche Merkmale, wie bei mir, spielten hierbei eine Rolle. Da lag ich völlig falsch. Es gibt sehr viele…“, Mera suchte nach Begriffen, für die es auf Arsadun bisher keine Namen gab, „Abstufungen dazwischen. Pan nennt mich inter*, em hat mir die Begriffe trans und nicht-binär erklärt. Benra zum Beispiel hat keinen Penis, ist aber ohne Zweifel trotzdem ein Mann. Ich sprach mit Akolythen, deren Geschlecht tageweise wechselt. Ich bekomme Briefe von Menschen, die sich gar keinem Geschlecht zuordnen. Oder von Personen, die mich fragen, ob sie sich trotzdem eine Frau nennen dürfen, obwohl ihnen ein Bart wächst.
Wir können einfach nicht mehr so tun, als würden Genitalien, Aussehen, Kleidungsstil oder Name bestimmen, welches Geschlecht Menschen haben, Agi.
Die Sondersitzung wird schnellstmöglich einberufen, da Ihr nun wieder zurück seid.“

Agi nickte zustimmend, dann sagte sie nach einer langen Weile: „Was hat die Projektgruppe für Ergebnisse bezüglich der gemischten Dormitorien und der unisex Wasch-Stuben erarbeitet? Das war doch das Hauptgespräch, bevor ich abgereist bin.“
Mera schnaubte verärgert. „Sie streiten noch. Eine Gruppe will, dass alles beim Alten bleibt. ‚Das haben wir schon immer so gemacht‚, Ihr kennt das. Eine weitere, die immer mehr Zulauf erhält, möchte, dass sich sofort etwas ändert, weil es Zeit wird, dies zu tun. Ich meine, wir gehen in einer gemischten Gruppe zusammen runter zum Meer, ziehen uns dort voreinander aus, schwimmen gemeinsam – und sind zurück im Tempel plötzlich wieder streng getrennt. Warum? Oder – wo sollen denn Benra, Ritanli und ich eigentlich zum Abort gehen? Bisher gibt es da keine Lösung.“

[Anmerkung zu diesem Text über trans, nicht-binäre oder inter* Menschen: Ich behaupte nicht, ich wüsste explizit, wie sich jemand in der Situation fühlt, was im Übrigen auch sehr individuell ist. Ich weiß nur, wie Mera sich fühlt. Wenn ihr mehr zum Thema wissen wollt, hört queeren Menschen zu. Ich versuche hier lediglich ein wenig Sympathien zu formulieren.]

Inzwischen hatten sie den Nebeneingang des Tempels erreicht. Die Zyklania zögerte, in welche Richtung sie gehen wollte. Sie sagte: „Ich muss unbedingt etwas essen. Aber ich will auch zuerst den Staub von der Reise abwaschen, ein warmes Bad für die verspannten Muskeln wäre auch fein. Und wir sind noch nicht mit den Berichten durch.“
Sie sah Mera bittend an: „Es ist nicht deine Aufgabe, aber könntest du mir heute zur Hand gehen? Dann könnten wir uns währenddessen weiter besprechen.“
Mera nickte ihre Zustimmung. Sie winkte zwei Akolythen, die aus dem Küchenbereich traten, näher zu kommen, befragte sie, was in der Küche angeboten würde und bat sie, etwas davon der Mater in ihre privaten Gemächer zu bringen.

~

Die Treppe zu den Räumen der Mater war eine letzte Herausforderung für Agi. Ihr vernarbtes Bein wollte einfach nicht mehr kooperieren. Mera stützte sie, so gut es ging. Neben dem Amtszimmer der Mater lagen ihre Privaträume. Im Vorbeigehen streifte Agi ihre Silberkette ab und legte sie über eine Drachenfigur, die auf einem Regal stand. Die beiden gingen weiter bis zum Waschraum, der zu den Zimmern gehörte. Seufzend setzte sich Agi auf den nächstbesten Schemel. Mera sah, wie übermüdet Ihre Ordensleiterin war, wortlos half sie ihr aus der Kleidung, schöpfte einen Eimer warmes Wasser, nahm ein weiches Tuch und zerrieb darauf ein paar Seifenalgen. Agi protestierte schwach, dass sie dass doch auch gut alleine könne. Mera, die mit dem Einseifen Agis Rückens fertig war, drückte ihr wortlos ein frisches seifiges Tuch in die Hand. Zum Abschluss goss Mera einfach das restliche Wasser über der Mater aus, um den Schaum abzuwaschen.

Sauber und rosig stemmte sich Agi vom Schemel hoch und ließ sich von Mera in das Becken helfen, das bei Ankunft der Ordensfrau geflutet worden war. Hier denken wirklich ein paar Leute prima mit, freute sich Mera. Agi streckte sich wohlig in der Wärme des Wassers. Hier war sie schwerelos, konnte entspannen. Mera, die sich einen trockenen Schemel neben das Becken gestellt hatte, beobachtete fasziniert, wie der angestrengte Gesichtsausdruck der Ordensfrau weicher wurde. Agi gönnte sich ein paar weitere Momente der völligen Entspannung. Dann fragte sie: „Wo ist eigentlich Feline?“
Mera sagte lächelnd: „Das Katzentier ist heute bei Fey Efauna geblieben. Es gibt kleine Chinsen, unser Parder ist entzückt und kaum davon weg zu bekommen.“

Nebenan im Zimmer stellten die Akolythen das bestellte Essen auf den Tisch. Mera war kurz aufgestanden und hinüber gegangen, um ihnen zu danken. Nun hatte sie wieder auf dem Hocker Platz genommen.
„Nur noch ein paar Momente, Mera, das Wasser tut einfach nur gut, ich kann meinen Muskeln regelrecht beim Entspannen zuhören. Magst du von deinen Eindrücken berichten, was du bei Pan gesehen hast. Du hattest vorhin etwas angedeutet.“

Mera bewunderte einen gestohlenen Moment lang den Anblick der Frau im Wasserbecken. Agi war schön und rundlich, wie die Göttin selbst, dachte sie. Dann räusperte sie sich. Falls es denn so etwas wie eine Mondgöttin gab.

„Pan hat mich astral mitgenommen in eine der Lerneinheiten in der Vergangenheit. Wir haben etwas gesehen, dass Pan als Mondlandung bezeichnete. Stellt euch vor, Agi, die Plutoran waren auf Phob. Dreimal! Und sie haben ebenso oft Deim besucht. Die Monde sind keine Götter. Es sind einfach nur Welten – wie unsere Welt Arsadun. Nur kleiner. Und ohne Leben, sagt Pan. Wir beten hier zwei tote Felsbrocken an, die unsere Welt umkreisen, Agi.“

Interessiert richtete Agi sich auf. „Wenn das stimmt, was du sagst, dann ist dieser ganze Orden, dieser ganze Kult… hinfällig. Dann bin ich Hohe Zyklania von was genau? Nichts?“
„Meine Rede seit vielen Sonnenkreisen“, schmunzelte Mera. Wie oft hatte sie sich mit diesen Fragen auseinander gesetzt. „Immerhin ist Dom ‚gepriesen sei ihr Name‚ nicht nur die Göttin der Zyklen. Die Monde haben dunkle Seiten, Schatten, strahlende Reflektionen – genau wie unsere Göttin Dom. Sie ist die Göttin der Lust, der Unterwerfung, des Wissens und Heilens, aber vor allem ist sie die Göttin der allumfassenden Liebe. Und vielleicht ist sie daher sogar unsere mächtigste Verbündete“, philosophierte Mera weiter.
„Gepriesen sei ihr Name!“, murmelte Agi, in allen Punkten zustimmend.
Mera meinte abschließend: „Wir können die Menschen nur mit Liebe, nicht mit Gewalt, überzeugen. Dom werden sie zuhören.“

„Das Wasser ist herrlich, aber nun ist es höchste Zeit, dass ich etwas esse. Wir haben keine Reise-Pausen gemacht, denn Linda meinte, wenn sie zwischendurch landete, käme sie nicht mehr in die Luft.“
Mater Agi rappelte sich seufzend aus der wohligen Wärme des Beckens hoch. Mera reichte Agi auf Verlangen ein Badetuch, das auf angewärmten Steinen gelegen hatte. Agi wickelte sich darin ein. Nasse Fußspuren hinterlassend, ging Agi zum Tisch hinüber. „Oh, das reicht für Zwei. Komm, Mera, iss mit mir.“
Mera schnappte sich ein zweites flauschig-warmes Tuch und legte es Agi auf die nackten Schultern, nachdem diese zustimmend genickt hatte. Vielleicht würde sie nachher ein wenig auf diesen Verspannungen herum massieren, sollten noch welche vorhanden sein. Mera hatte Öl von Naselhüssen im Bad entdeckt, das sich bestimmt gut dafür verwenden ließe. Vorausgesetzt, Agi würde es wollen. Nach dem Essen würde Mera sie fragen.

Agi löffelte heiße Klunkensuppe, zuvor hatte sie ein Glas Biramellensaft mit Quellwasser verlängert und hastig hinuntergestürzt. Auf der Reise hatte sie viel zu wenig getrunken. Zwischen zwei Bissen von der gerösteten Botterstulle mit geschmolzenem Käse fragte die Mater: „Wie sind die Plutoran auf die Monde gelangt? Kein Drache könnte so hoch fliegen. Das ist weit über den Wolken, höher als die höchsten Berge.“
„Stimmt“, meinte Mera, „in Wirklichkeit sogar noch viel weiter als Gipfelhöhe. Pan hat es so erklärt: Wenn wir ein langes Seil hätten, dass rund um Arsadun reichte, dann müssten wir zehn Seile davon aneinander knoten, um zu den Monden zu gelangen. Sie haben fliegende Hütten, ähh hmmm, wie nannte Pan das… Raketen. Genau, Raketen. Da ist eine Art Ofen in den Hütten, ähh, Raketen, und mit dem Rauch stoßen sie sich ab. Oder so ähnlich. Sie müssen Luft zum Atmen mitnehmen, denn zwischen Arsadun und den Monden gibt es keine Luft. Und auf den Monden auch nicht.“

Mera häufte sich Kosenrohl auf den Teller, legte eine Knolle dazu. Sie liebte dieses Gemüse, besonders, wenn es in Bottersoße und mit gerösteten Kusstannien und Käsestückchen angerichtet wurde. Agi tat es ihr nach. Sie kauten eine Weile schweigend vor sich hin.
„Das mit der Göttin und den Monden, das verschieben wir erst einmal“, sagte die Hohe Zyklania. „Wesentlich wichtiger ist es, die überholte Geschlechtertrennung anzugehen. Was haben sich damals manche Feys aufgeregt, als die Kleiderordnung abgeschafft wurde, nicht wahr. Und heute tragen ausnahmslos alle, was sie möchten – abgesehen vom Farbcode des Tempels in Schwarz, Grau und Weiß. Wir werden dafür werben, ganz wie Linda es uns geraten hat. Die Menschen überzeugen, nicht einfach Regeln aufstellen, oder abschaffen. Wäre das ein Grund für dich, als Fey im Tempel zu bleiben?“

Mera nickte. „Das wäre so ziemlich der einzige Grund! Beinahe.“
Mera dachte an Fey Falaner und all die anderen, die ihrem Herzen gefolgt waren und nicht unbedingt diesen starren, unnützen Regeln.
„Und was ist mit der Liebe?“, fragte sie leise.

„Auch das“, bestätigte Agi. „Es wäre schön, wenn wir einfach lieben könnten, zu welcher Person es uns hinzieht. Sofern diese damit einverstanden ist.“
Sie sah Mera dabei nicht an. Aber das musste sie auch gar nicht.

~ Fast das Ende, denn eigentlich beginnt es hier und jetzt. Immer wieder. ~

.

Epilog – Plutor

„Haben nun alle ihre Konsolen geöffnet, sind alle Bildschirme an? Gut. Wir beginnen den heutigen Geschichtsunterricht mit dem Kapitel über Die Tempel-Revolution.“
Zu fünft saß die Lerngruppe über ihre Informationsgeräte gebeugt.

Die Lehrkraft fragte: „Wisst ihr noch, was das Wort Revolution bedeutet?“
Fünf Hände hoben sich synchron. Die Lehrende lächelte.

Sontano durfte zuerst antworten: „Ein Umsturz, das bedeutet es.“

„Ja“, ergänzte Ludolan, „aber eigentlich heißt es wörtlich Umdrehung.“

„Oh, es dreht doch gar nichts im Kreis, es dreht sich um 180 Grad, bildlich.“ Rical war verwirrt. Em war in der letzten Semane krank gewesen, als die Lerngruppe das Thema begonnen hatte.

„Anirus , magst du antworten?“, forderte die Lehrkraft auf.
Das Kind nickte. „Die eigentliche Bedeutung ist Umdrehung, richtig, aber das Wort wurde später auch für die Umkehr von Systemen verwendet.“

„War die Tempel-Revolution friedlich, oder haben sie um die Abschaffung der alten Ordnung gekämpft?“, wollte Jandrer wissen.

„Das ist eine gute Frage“, meinte die Lehrkraft. „Manchmal ist eine Revolution bewaffnet, das stimmt. In diesem Fall war es jedoch ein friedlicher Umsturz. Beiden Fällen ist gemein, dass es sich relativ rasch ereignet. Warum, meint ihr, wurde die alte Ordnung so überaus schnell abgeschafft?“

Ludolan bekam das Wort: „Die Zeit war reif. Ich weiß nicht, warum niemensch im Tempel oder in Dazel zuvor auf die Idee gekommen ist, gegen die Regeln zu protestieren. In Etuss waren sie ja zu dem Zeitpunkt schon weiter. Aber als der Umbruch begann, stellten sich viele diese Frage. Vielleicht hatten Einzelne schon Ideen, doch sie wussten ja nicht, dass sie nicht allein waren.“

„Und alles nur, weil eine binär-weibliche Hosen tragen wollte“, sinnierte Jandrer.
Sontano widersprach: „Sie war überhaupt nicht binär!“
Jandrer hob die Augenbrauen und vertiefte sich kurz in sier Leseprogramm. „Oh, du hast recht! Mera war tatsächlich nicht-binär, und inter* steht hier.“
Die Lehrkraft nickte anerkennend. „Das habt ihr sehr gut kommuniziert.“

Ludolan wollte wissen: „War das eigentlich der Beginn der Transition des Planeten Arsadun in unsere Welt Plutoran?“
Die Lehrkraft runzelte die Stirn und antwortete nach kurzer Überlegung: „Das ist sehr vereinfacht ausgedrückt. Aber ja – damals hat es begonnen, ließe sich sagen.“

Sontano hatte noch eine Frage: „Stimmt es, dass die Ereignisse der Mera Epoche auf Arsadun Auswirkungen auf das Morphen hier auf Plutor hatten? Dass die Ächtung des der Verschmelzung und des Morphens deshalb beschlossen wurde und nur noch Klonen erlaubt ist?“
„Diese Frage zu ergründen und zu beantworten dürfte mehrere Lerneinheiten dauern“, machte die Lehrkraft deutlich. „Wir können das gerne in den Lernplan aufnehmen, wenn ihr möchtet.“ Die Lerngruppe beschloss einstimmig, mehr darüber erfahren zu wollen. Die Lehrkraft machte sich eine Notiz und fuhr mit der Lerneinheit fort.

„Was kam nach dem Kleidersturm? Wann wurde der Mondkult aufgelöst? Lasst uns die Chronologie der Ereignisse jener Epoche gemeinsam herausfinden.“ Zufrieden über den Lerneifer der Gruppe startete die Lehrkraft die Dokumentation. Über die Bildschirme der Kinder flog erhaben ein Drachentier, mit grünblättrigen Schuppen und violett leuchtenden Augen.

~ Ende ~

Glossar

.

Personen:

Mera Orfe – Protagonist:in
Eltern: Hanne und Brolan Orfe

Freunde/Feydahn

Den Begriff „Feydahn“ (Freunde) habe ich über eine Befragung meiner TL gefunden, all kudos to Niki @Nimei. Es sollte den binären Begriff Freund/Freundin ersetzen. Und klanglich gut in die Welt Arsadun passen. Über die Grammatik bin ich mit mir uneins. Wie zum Beispiel der Plural lauten könnte, so es einen gibt.

Pietje, Feydahn
Yoralou, Feydahn (vormals Nini)

Pan – Erklärung: der Name hat, wie auch der von Mera, viele verschiedene Bedeutungen. Das Neopronomen „em“ wird verwendet. Pan ist Meras Anam Cara, (Keltisch: Anamchara, für Seelenfreund.) Der Begriff wurde bei der Twitterbefragung von Red @RhodeliaRosea vorgeschlagen.

Nebencharaktere:

die Hevianna (Hebamme), kein Name bekannt.
Biggi, ein Dorg
Schowenga, ausbildende Person in der Plutor-Welt

Ordensschwestern:
Mater Agi Lugosvitta, Titel: Hohe Zyklania (MutterOberin)
Fey Beliza (weißhaarige Vertreterin der MutterOberin ),
Fey Alrube (Rothaarig Protokoll),
Fey Efauna (Leiterin des Tierpark)
Fey Eskulappia, erwähnt (Heilerin)
Falaner (Akolyth, Giswestar of Mera)
Benra (Akolyth, Giswestar of Yoralou)
Filip (Akolyth, Giswestar of Pietje)
Ritanli (ein Akolyth, möchte Fey werden)
Tahuti (Akolyth, schreibt Protokoll)

Yori, (Bootsmeisje, Helferin eines Schiffslenkers auf der Alsaune)
Fru Zora (Handelsfrau)

Linda Udenberg (ein Drachenwesen)

Im Epilog: eine Lehrende / Lehrkraft (kein Name/Pronomen bekannt)
Lernende: Anirus
Jandrer, sier
Ludolan
Sontano
Rical, em

Name der Welt/des Landes/Bezeichnungen:

Arsadun (Der Planet, auf dem Mera lebt)
Dazel (Zel-Da, Kontinent)

Lunby (Hauptstadt von Dazel, liegt an der Mündung des Monostroms am Etussischen Meer)

Phob und Deim (die zwei Monde der Welt)
Plutor (Pans Welt)

Flickaborghem (Stadt im Norden Dazels, Geburtsort von Mater Agi Lugosvitta)

Fosser (Fluss nahe dem Orfe-Hof. Mündet in die Alsaune, diese in den Monostrom)

Tiere:

Bohrwürmer (BlutEgel, leben im Delta des Monostrom)
Chinsen (langhaarige, stelzenbeinige Wesen mit Rüsselchen)
Dorgs (Neufundländer-Hunde-Drachen-ähnliche)
Hahnten (Hühnerähnliche Eierlegende)
Glibblinge (Fische)
Kachimunia (Flugratten)
Karaunen (Fische)
Krabbler (Insektenartige, Skorpione)
Keuler (nachtaktive Flugechse, Kauz und Eulen-ähnlich, oder wie ein Furby/Critter-Mix)
Loxflosser (Fische)
Parder (Katzenartig, mit Halbmondflecken im Fell)
Pickets (etwa wie Meerschweinchen mit Schnabel)
Rinnos (Milchgebende, Kühen ähnlich)
Scherer (Flusskrebse)
Schlängler (Schlangen und so)
Stulliche (Pferdeähnliche, Mix aus Stute, Wallach und Zebra in Regenbogenfarben. Ponhi und Winhi.)
Walfinen (Fische)
Weebees (Bienen)
Zigots (Ziegenähnliche mit langen Haaren)

Pflanzen:

Erlke (Baum, Erle/Birke jedoch Weiden-ähnlich)
Huller-Büsche (stell dir Flieder mit Hibiskus-Blüten vor, dann hast du ein Bild)
Knofilauch (Porree-artiges Zwiebelgewächs mit Knoblauchgeschmack)
Kosenrohl (fluffiger Rosenkohl)
Kusstannie (Kastanienbaum)
Naddelbäume (Tannen)
norische Nierenbohnen (Drachenfutter)
Pomselbaum (so eine Art Mango-Banane, aber mit Apfelgeschmack und Aussehen)
Würzeln (wie Möhren, nur irgendwie niedlicher)

Nahrung:

Augen-Eier (Spiegeleier)
Biramellen (Mirabellen, nur viiiel größer)
Botterstulle (Butterbrot)
Dutteln (nahe verwand mit Datteln, aber mehr uh)
Klunken (irgendetwas mehliges in Bröckchen, aber in lecker)
Kusstannien-Mus
Naselhüsse (Haselnüsse)
Pematos (wie Pepperoni nur tomatiger)
Pinepoms (wie Ananas)
QuirlEier (Rührei)
Sorinen (Rosinen)
Tuhrte (Torte, Kuchen)
Weebee-Honig
Würzeln (na, was meint ihr?)
Zigot-/Rinno-Milch (nachhaltig erwirtschaftet, das Euter teilen sich Michwirtschaft und Kalb)

Religion

Mahmuna, Gottheit der Flugratten (Kachimunias)

Kult der Mondgöttin Dom (diese herrscht über die Monde Phob und Deim / dient ihnen. Ihr Zeichen ist ein halber Doppel-Mond oder eine Keuler und die Zahl Zwei.)

Die Legende von Korri und Aavat (Mädchen und Drache schließen Freundschaft. Legende auf Arsadun, die auf einer wahren Geschichte beruht.)

Sonstiges:

Akolyth (Fey-Anwartschaft)

Aspiranz (Neuling im Orden, Akolyth-Anwartschaft)

Astrale Stimme (Telepathie, Pan nennt es Sternensprache)

Ballen (Spielball)

Fey (Ordensschwestern)

Feydahn (Freunde, Herzmenschen, Steigerung: AnamCara-Seelenfreund, Soulmate)

Giswestar (Betreuung der neuen Aspiranzen)

Lernhalle (Schule)

Mater (OrdensLeitung)

Leuchtschwamm/Leuchtalgen (Schwamm = Pilze sind essbar, verbreiten Licht in grün, sie werden als Myzel auf ihrem Trägermaterial, meist Wurzelgeflecht, in Lampen als Leuchtmittel genutzt. Die Algen leuchten blau, werden von einigen Flugechsen gefressen und verursachen bei ihnen Leuchtpickel.)

Silberstern (Währung)

Sonnenkreis (Jahr)
Mischan (Monat, 10 Mischan = 1 Jahr)
Semane (Woche, 2 Semanen = 1 Mischan)
Tag (Tag, 5 Tage = 1 Semane)

Danksagungen

Für den Anstoß für die Umsetzung der absurden Idee zu diesem Plot danke ich K. Ohne das auffordernde „Mach!“ hätte ich diesen Fantasy-Roman nie geschrieben.

Schon bei „Unwritten Story“ hatte ich begonnen, während der Entstehung des Kurzromans in einigen Tweets darüber zu berichten. Das war recht hilfreich, um im Nachhinein herauszufinden, wann ich auf welche Ideen gekommen war. Das Konzept des Schreibtagebuchs währendes des #wip gefiel mir gut.
SheMera wurde von Beginn an auf Twitter dokumentiert. Hier danke ich allen, die mit ihren Kommentaren und Ideen die Geschichte voran gebracht haben. Einige Namensfindungen sind dort entstanden.

Ganz besonders bin ich meinen Test-Lesenden verbunden, die sich das noch rohe Manuskript angetan haben. Ihre Ideen, Anmerkungen und Empfindungen sind bei den folgenden Überarbeitungen – und vor allem bei den notwendigen Korrekturen – in die Geschichte eingeflossen. Ohne dieses ausführliche Lektorieren und Korrigieren, das Lob, die Diskussionen und die wertvolle, konstruktive Kritik, wäre SheMera eine andere, schlimmere Geschichte geworden. Der Plot ist daraufhin notwendigerweise ein paar mal erweitert worden.
Corinna, Pia, karlabyrinth – ihr seid ganz wundervolle Menschen, Danke!
Corinna Balkow@thiernab,
Pixel Park@P1xelPark,
karlabyrinth

Die Familie hat mich in dankenswerter Weise weitestgehend beim Schreiben in Ruhe gelassen, und ab und zu gefüttert, sodass ich meist unabgelenkt in meiner Schreibbude die Welt Arsadun bzw. Plutoran entstehen lassen konnte. Und meinem Hundetier danke ich für das Einfordern der notwendigen Pausen. Das hat mir den Kopf öfters freigemacht, wenn sich mal wieder eine sperrige Idee nicht einfügen wollte.

Im Handbuch der geschickt formulierten Danksagungen stünde nun der Dank an die Lesenden. Ich kenne euch vermutlich nicht, aber ich wünsche euch viel Vergnügen beim Lesen der Kapitel. Ich fände es prima, wenn ihr mir ein paar Gedanken dazu schreibt, mit welchen Empfindungen ihr Mera gelesen habt. Was hat euch gefallen, was mochtet ihr nicht. Hat der Plot eure Erwartungen erfüllt? Schreibt es einfach bei Twitter unter dem Hashtag #SheMera in die Kommentare.
Hinweise zu #sheMera lese und beantworte ich gerne auf Twitter

~

Nachwort

Die Grundidee war, eine Figur, ein Mädchen, zu erschaffen, dem aus unerfindlichen Gründen ein Penis wächst. Es sollte eine sehr kurze Kurzgeschichte werden. Dass schließlich ein langer Roman daraus wurde, in dem eine ganze Welt am Ende transqueer wird, hat sich irgendwie verselbständigend ergeben.
Und wie beinahe erwartet, haben Handlung und Charaktere mal wieder eine völlig andere Richtung genommen, als ich urspünglich geplottet hatte.

~

Ko Wananga

Schreibt, malt, werkelt, lebt so vor sich hin. Lebt am Rande einer Familie mit Hund und Garten in der niedersächsischen Provinz, zwischen Heide und Harz. Träumt vom Meer.

CN, Content Notes Inhaltshinweise

Damit niemand meiner Lesenden unvorbereitet mit möglicherweise unangenehmen Themen konfrontiert wird, nachfolgend eine Listung von Vorkommen im Inhalt, einige davon möglicherweise triggernd.

In fast allen Kapiteln wird Essen erwähnt.

Mera, mein Hauptcharakter ist ein inter* Mensch, sie ist ein Mädchen (afab) mit einem Penis. Sie versteht sich zunächst als einzigartig und missversteht vieles in diesem Zusammenhang. Viele ihrer Gedanken sind aus biologistischer Sicht verletztend.
Im Kapitel „Entzauberung“ lasse ich Mera einiges zum Thema erklären – und hoffentlich richtigstellen
.

[Die Liste ist möglicherweise noch nicht vollständig.]

CN in den einzelnen Kapiteln:

Der Anfang

Geburt
Geschlechtsmissdeutung (afab)

Ein Dutzend

Tiere
#food (Essen)

Kuschelige Nächte

Nacktheit
Erwähnung von Genitalien
Selbstbefriedigung, angedeutet.

Pan

Insekten

Anam Cara

Tierzunge, lecken

Anam Cara 2

Im Tal der Pomselbäume

Tierzunge, lecken
Krabbeltiere (impliziert Insekten und Schlangen)

Der Weg zurück

Weinen
Ohnmacht

Anam Cara 3

Telepathie

Aufbruch in die Fremde

Kleidung – shaming
Gender-shaming, missgendern.

Lunby

Leuchtpickel

Im Tempel der Mondgöttin

ASMR
Einführung Filip (retardiert)
Tiere

Regeln und Brechen

Kuss
Narbe
Blindheit (Einäugig)
Hinken

Zeit der Reife

Nacktheit
Gespräche über Genitalien

Drachen und Bohnen

Körpergeräusche
Notdurft verrichten

Von der Kunst, einen Drachen zu zäumen

Erwähnung von Fesselungen

Morphen

Erwähnung von Geschlechtsidentität

Ein Zoo ohne Tiere

Tiere

Entzauberung

Erwähnung / Erklärung diverse Geschlechter
Nacktheit

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