von Rabbit
Freitag.
Der letzte Urlaubstag - nochmal richtig ausschlafen. Ein Geräusch
bohrt sich ins Unterbewusstsein... was ist das? Ich weigere mich
die Augen zu öffnen. Hmmm - nur ein Vogel, der flattert. Hä? Wo
flattert der? Achso, klar, die Dachrinne, über meinem Schlafzimmerfenster,
da hocken immer wieder mal Vögel, suchen verwehte Zweige oder Beute
- irgendwas... Vogelbeschäftigung halt. Hat mit mir nix zu tun.
Meine Güte, ist das laut... das Geräusch wird bewusstseinspflichtig;
mir scheint, da sitzt ein Vogel auf dem Fensterbrett? Kann das sein?
Unwahrscheinlich: das Fenster steht sperrangelweit offen, mein Bett
direkt drunter. Da wird doch kein Vogel...? Ich schrecke hoch und
schaue direkt einer Amsel ins Gesicht, die auf dem Fensterrahmen
sitzt und offenbar grade Anstalten macht, ins Zimmer zu fliegen.
Sie beschließt dann doch, vor mir erschrecken zu müssen und fliegt,
wie mir scheint, widerwillig, wieder nach draußen. Sowas. Ich lache
und schlafe wieder ein. Komischer Vogel. Sah jung aus.
Samstag. Meine Kaninchen dösen in der Sonne. Genüsslich räkeln sie
sich in ihrem großen Gehege, einem mannshohen Käfig aus geschweißtem
Maschendraht, die Tür steht zwar offen, aber es ist Mittagszeit,
da will geruht werden, nicht spazieren gegangen. Ich sitze wenige
Meter daneben unterm Sonnenschirm und lese, werfe ab und zu einen
Blick auf meine Tiere, freue mich an ihrer Gelassenheit, ihrer Ruhe.
Nanu, Bewegung? Was hat die Tiere da erschreckt? Hektisches Gehopse,
ganz unvermittelt, schreckt mich aus dem Krimi auf und prüfend werfe
ich einen Blick in die Runde: Ach so, da hat sich mal wieder ein
Vogel ins Kaninchengehege verirrt! Blödes Tier, rein kommen die
immer und dann kriegen sie Panik und finden den Ausgang nicht mehr,
flattern wie wild im Gehege herum, machen nur Ärger... aber - nanu?
- diesmal scheint das anders zu sein: Eine junge Amsel im gefleckten
braunen Gefieder hüpft ganz gelassen zwischen den mittlerweile wieder
beruhigten Kaninchen herum. Sie beäugt neugierig das Häuschen, hüpft
dort aufs Dach, dreht immer wieder misstrauisch den Kopf in meine
Richtung. Ich sitze inzwischen wieder, um den Vogel nicht zu erschrecken
und schaue interessiert zu.
Die kleine Amsel nimmt keine Notiz von mir oder den Kaninchen. Sie
geht ihre eigenen Wege: hops - hops - hops übers Stalldach und wieder
runter. Hüpfend durch den Sandkasten. Karnickelsenior nimmt übel
und verzieht sich in die Ecke - vielleicht will er auch nur Schatten?
Hops - hops - hops geht der Erkundungsgang weiter, unters Dach,
in die Hasenhütte. Aha, da hinten ist ein Ausgang. Amselchen flattert
heraus, guckt sich neugierig um. Hops - hops - hops - hops - hops
- da ist die Tür. Sie sitzt wieder draußen, vorm Gehege. Ganz gelassen,
ganz ruhig. Dieses Tier wusste offenbar, was es tat! Ich bin verblüfft.
Und ein zweiter Erkundungsgang beginnt. Diesmal hüpft der neugierige
Vogel links herum, erschreckt wieder die Karnickel durch sein unerwartetes
Aufflattern neben ihnen, erschrickt seinerseits durch ihr Herumgehopse,
schimpft ein bisschen, untersucht ein Kotkügelchen und lässt seinerseits
eine kleine Markierung fallen. Was geht da vor? Ich wundere mich.
Das ist seit Jahren der erste Vogel, der mehrfach in diesen Käfig
hüpft und offenbar auch nach einigen Minuten noch ganz genau weiß,
wo er reingekommen ist und wieder rauskommen wird.
Ich stehe auf und beschließe, dass es eh Zeit für die Hasenfütterung
ist. Mal sehen, ob die Amsel Nerven zeigt! Ich greife nach dem im
Schatten bereitstehenden Korb mit dem geammelten Löwenzahn, bewege
mich langsam auf den Käfig zu und betrete ihn. Die kleine Amsel
beschwert sich ein bisschen und hüpft links hinter die Ruhehäuschen.
Während ich die Blätter an verschiedene Futterstellen verteile,
sehe ich ihr neugieriges Köpfchen, das inzwischen auf der rechten
Seite hervorlugt. Vorsichtig hüpft sie um die Häuschen herum, kaum
mehr als einen Meter von mir entfernt, behält sie mich zwar im Auge,
setzt aber ihren Käfigbesuch ungeniert fort. Wieder quer durch den
Sandkasten, die Holzrampe rauf, übers Stalldach, hinter mir vorbei
- dieses Tier hat mich tatsächlich umrundet! - und zur Käfigtür
raus.
Ich grinse in mich hinein und denke kurz darüber nach, dass der
Vogel hoffentlich nicht die Absicht hat, mich hier einzusperren
- da bleibt mir das Grinsen im Gesicht stehen: Was macht der da?!
Die Amsel hüpft vor meinen staunenden Augen gelassen quer über die
Terrasse auf die geöffnete Wohnungstür zu, bleibt kurz auf dem Fußabstreifer
stehen, legt den Kopf schief und äugt neugierig in den Flur. Hops
- drin ist sie. Sprachlos schaue ich ihr zu. Sie untersucht das
Schuhregal, interessiert sich scheinbar für den Körnereimer, nein,
doch nicht, bemerkt, dass ich wieder aufs Haus zukomme und hüpft
leise schimpfend wieder aus der Wohnung heraus, mir entgegen, an
mir vorbei, diesmal in Richtung Sonnenschirm. Entschuldige, kleiner
Vogel, dass ich dich aus meinem Haus vertrieben habe, aber findest
du dich nicht ein wenig zu dreist? So jung und schon so frech? Wer
so risikofreudig ist, wird wohl nicht alt - aber sie ist schon witzig,
die Kleine. Ich setze mich wieder hin und sehe, wie sie gemütlich
auf die Gartentreppe zuhüpft, die sie sich flatternd hinunterstürzt,
bevor sie über den Zaun zum Nachbargrundstück fliegt und aus meinem
Blickfeld verschwindet.
Sonntag. Zweimal kommt die kleine Amsel an diesem Nachmittag. Sie
untersucht dabei die ganze Terrasse, hüpft in jeden Blumenkasten,
der auf dem Boden steht, interessiert sich für jeden Stein, jedes
Möbelstück, jeden Blumentopf, den Mülleimer, die herumliegenden
Zweige vom letzten Wind... alles wird untersucht. Vor allem die
Erde zwischen den Bodenplatten - vermutlich voller leckerer Beuteinsekten.
Ich mag das Vögelchen und freue mich darüber, vielleicht einen regelmäßigen
Sommergast zu haben - aber die Terrassentür möchte ich vielleicht
doch eher geschlossen halten, wenn ich nicht draußen sitze.
Montag. Es regnet viel, ich habe keine Gelegenheit, draußen zu sitzen,
werfe aber ab und zu einen Blick durchs Küchenfenster. Die Amsel
ist heute nicht zu sehen.
Dienstag. Tee auf der Terrasse. Kein Vogelbesuch. Abendessen kochen.
Tomatenreis - da passt ein wenig frischer Salbei, finde ich und
gehe zur Gartentreppe. Unten steht ein großer, weißer Plastikeimer,
der vor Jahren mal voller Wandfarbe war und inzwischen Unkrauteimer
geworden ist, halb voll mit Regenwasser, steht da gleich neben dem
Salbeistrauch.... was ist da drin?! Oh nein. Ich stehe wie vom Donner
gerührt und kann nicht fassen, was ich sehe, will nicht glauben,
dass das wirklich dunkelbraune Schwanzfedern... zaghaft, widerwillig
steige ich die Treppe hinunter, ich will das nicht sehen, will das
nicht wissen, will das nicht verantworten, ich will das nicht!!!!
Blitzartig sehe ich vor meinem inneren Auge Verzweiflung, Flattern,
Spritzen, Angst, Panik, Müdigkeit, Erschlaffen, Aufgabe... ich möchte
schreien, toben, weinen, heulen. Verdammt. Ein beschissener alter
Plastikeimer, den ich nur zu faul war, wieder in den Keller zu räumen.
Vierzig Zentimeter hoch. Halbvoll mit Wasser. Nur halbvoll. Wer
so risikofreudig ist, wird nicht alt...
Rabbit