Lebensfaden

von Sandmann

London 1997

Zur Feier der Geburt der Prinzessin kamen Abgesandte aller Stände, um dem Kind ihre Aufwartung zu machen. Den Eltern wurden freudig und aufrichtig Geschenke und Glückwünsche erbracht, denn es waren gute und gerechte Herrscher, und das Volk liebte sie und teilte die Freude über den endlich eingetroffenen Kindersegen.

Unter den letzten Gratulanten in der langen Reihe waren die Botschafter des Zauberreiches. Die Zauberin überreichte als Geschenk ein Knäuel Wolle. Das Königspaar war sichtlich enttäuscht wegen des ärmlichen Geschenks. Gerade von den Zaubermächtigen hatten sich die Eltern ein besonderes Geschenk für ihr Kind erhofft. Doch des Anstands Willen nahmen sie es an.

Doch die Magierin bemerkte den Missmut der Eltern und erklärte, dass der Faden des Knäuels die Lebenszeit der Prinzessin darstelle und mit jedem Atemzug der Prinzessin sich ein wenig von der Wolle abwickle und unwiderbringlich verloren ginge. Aber sie sagte auch, dass kein Grund zur Sorge bestünde, denn es würde ein besonders langer Faden für das Kind gewoben.

Das Knäuel wurde von nun an besonders behütet. Über die nächsten 16 Jahre hinweg ging wirklich nur ein sehr kleiner Teil der Wolle verloren. An ihrem 17. Geburtstag wurde der Prinzessin die Bedeutung des magischen Fadens erklärt. Ungläubig hörte sie die Geschichte. Sie dachte einige Zeit nach und griff dann nach dem Ende der Wolle und zog etwas daran, um etwas davon abzuwickeln, und tatsächlich war im Handumdrehen ein halbes Jahr vergangen.

Wenn von nun an der Prinzessin langweilig war, oder ihr etwas missfiel, sie Zahnschmerzen hatte oder der Winter zu kalt war oder der Sommer zu heiß, zog sie ein wenig am Faden - manchmal auch ein bisschen zu stark, aber das kümmerte sie wenig, denn das Knäuel war noch recht groß.

Doch es kam, dass das Königreich in einen Krieg verwickelt wurde und das Volk unter großer Not litt. Die Lage verschlechterte sich und ein Ende war nicht abzusehen. Also beschloss der König, um die Zeit des Leidens für sich und sein Volk zu verkürzen, einige handbreit des Fadens abzuwickeln. Heimlich schlich er zum Knäuel, nahm es in die Hände und griff zögerlich nach dem Faden. Doch die Prinzessin überraschte ihren Vater in diesem Moment. Der König erschrak so sehr, dass er das Knäuel zu Boden fallen ließ. Die Wollkugel rollte den Boden entlang durch den ganzen Saal in dem es aufbewahrt wurde und wickelte so den gesamten Faden ab.

So starb die nun hundert Jahre alte Prinzessin 19 Jahre nach ihrer Geburt und mit ihr das gesamte Volk.

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